Prag in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts

Der Titel des Buches von Volker Klotz Die erzählte Stadt deutet nicht nur das Thema der Überlegungen des Autors an, sondern bringt auch zugleich die These zum Ausdruck, auf der seine Interpretation verschiedener literarischer Gestaltung der Stadt begründet ist. Schließen wir uns der Annahme von Klotz an – „nämlich, dass eine Affinität bestehe zwischen Stadt und Roman, zwischen einem außerpoetischen Gegenstand und einer poetischen Gattung“,_1 kommen wir ganz logisch zur Frage, die Gegenstand auch unserer Überlegung sein wird: Welche Geschichte erzählt das in den Prosawerken der tschechischen Literatur erfasste Prag? Versuchen wir diese Frage unter Hinweis auf einige Werke des 19. und 20. Jahrhunderts zu beantworten.

I. Bedingungen und Charakter der Erzählsituation der Stadt
Jede Geschichte bedeutet, sich in erster Linie in die Vergangenheit zu wenden, zu dem, was geschehen ist – heute morgen, gestern, genauso wie vor Hunderten von Jahren. Prag ist wie jede Stadt, durch welche die Geschichte des ganzen Volkes verläuft, mit Geschichten verwoben, die in deren Architektur, in den Denkmälern, Legenden, dichterischen Bildern, auch in den tagtäglichen Nachrichten fixiert sind. Diese Begebenheiten, in die permanent die Geschichte eingeflochten ist, ist irgendwie das grundlegende erzählerische Potential der Stadt und gehört zum kollektiven Gedächtnis der ganzen Gesellschaft. Die Literatur bemächtigt sich dieses Komplexes als eines spezifischen Textes, der durch Schichten gebildet wird, welche die Zeit aufgetragen hat und auch durch ein überzeitliches Netz von Beziehungen und Zusammenhängen zwischen ihnen.

Die älteste Schicht dieses Prager Ur-Textes bilden Begebenheiten über die Stadtgründung (z. B.: die Sage über die Fürstin Libussa, über Přemysl – den Pflüger, über den Mädchenkrieg usw.), und diese mythische Gestalt Prags repräsentieren die Burg Vyšehrad und die Fluss Moldau. Die mittelalterlichen Geschehnisse werden vor allem durch die Architektur der Stadt verkörpert, durch ihre Bauwerke wie die Prager Burg, die St.-Veits-Kathedrale, die Karlsbrücke u.a.; hierher gehören aber auch die verwinkelten Gässchen der Altstadt, die schmalen Vorderfronten der mittelalterlichen Häuser und vor allem die bizarren Winkel des Judenghettos. Die Geschichten der weiteren Jahrhunderte fügen dem Bild Prags heroische (Hussitenkriege) und tragische Züge (Schlacht am Weißen Berg, Hinrichtung der böhmischen Adligen auf dem Altstädter Ring) hinzu.

Die Zeit Rudolfs des Zweiten (Ende des 16. und Beginn des 17. Jh.) schuf ein phantasiereiches, okkultes und magisches Prag (Sagen über die Alchimisten, über Golem usw.). Die Skala dieser suggestiven Charakterzüge erweiterte bald darauf die religiöse Imagination, verkörpert durch die barocke Architektur und Interieure der Kathedralen, erfüllt von Erzählungen über Heilige und Märtyrer. Im 19. Jahrhunderts begann Prag ganz anders zu erzählen: Das erwachte Nationalbewusstsein der tschechischen Gesellschaft initiierte Erzählungen, welche die Existenz der Nation bestätigen sollten. Daran erinnert das Nationaltheater, aber auch die Statue des Patrons der böhmischen Länder, des heiligen Wenzels auf dem Wenzelsplatz._2 Diese Zeit fügte jedoch in Prags Text noch andere, ganz neue – profane – Charakterzüge ein, welche die allmähliche Industrialisierung der Stadt und die gesamte Beschleunigung der Prozesse der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen mit sich brachten. Man kann sagen, dass dieser Trend auch in der Gegenwart dominiert und der Prager Text durch neue Geschichten gekennzeichnet wird, die wir erleben und auch in der Gegenwartsliteratur lesen.

Für die erzählerische Situation Prags ist symptomatisch, dass mit diesem Ur-Text jede Erzählung verbunden ist, die als neuer Text immer auf irgend eine Weise die ursprünglichen Schichten umschreibt und so die Gestalt eines Palimpsests annimmt. Die Tatsache, dass die alten Begebenheiten niemals die neuen Begebenheiten verlassen, hat ihre Konsequenzen vor allem auf der Ebene der semiotischen Beziehungen: Das Thema oder die Motive Prags rufen schon im Voraus eine ganz bestimmte Vorstellung hervor, deren Quelle eben gerade in einer der älteren Schichten des Ur-Textes liegt.

Diese Möglichkeiten begann besonders die Literatur der nationalen Wiedergeburt auszunutzen: In dieser Zeit gab es zum Beispiel häufig die Rückkehr zum ältesten Zeitraum und zu den Erzählungen über die Gründung Prags (sog. Přemysliden und Legenden). Im Kontext der nationalen Ideologie des 19. Jh. bildeten sich aus dem mythologischen Potential Wertsymbole, auf denen die Existenz der Nation begründet ist (so wurde zum Beispiel die Königinshofer-Handschrift gelesen). Ähnlich war es auch mit der historischen Prosa, die die Ereignisse der religiösen und nationalen Streitigkeiten im Mittelalter (die Helden Jan Hus, Jan Žižka) als eine Zeit evozierte, die in den Äußerungen des Heldentums und des nationalen Selbstbewusstseins mit der Passivität der Zeitgenossen kontrastierte: Die Bilder des barocken Prag erinnerten wiederum an den Beginn des Verfalls der tschechischen Nation. In der Literatur des 19. Jh. war gerade diese Art und Weise der Eingliederung der „Geschichten“ Prags in neue Texte sehr häufig und kam hauptsächlich in historischen Erzählungen und Romanen zur Geltung.

Für einige Autoren aber war Prag nicht nur eine historische Kulisse oder ein Gleichnis, etwas Wesentliches über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft mitteilend. So beginnt zum Beispiel die dichterische Prosa von K. H. Mácha Die Rückkehr_3 mit dem Bild der Stadt, die dem Verfall preisgegeben ist, ähnlich wie Jerusalem in der biblischen Prophezeiung des Isaias und den Klageliedern des Propheten Jeremias. In die erregte Äußerung (Apostrophe, Fragen, an Prag adressierte Aufrufe) tritt außer den biblischen Parallelen auch das Thema der Zeit ein, die alles ausmerzt und in die Nichtigkeit des Todes umwandelt. Diese tragische Perspektive des Verderbens eröffnet sich auch vor Prag, weil es ein Teil ihrer Söhne verlassen hat, ein anderer Teil geht ohne Hilfe unter. Diesen Text kann man als durchsichtige Allegorie lesen, welche die zeitgemäßen Stimmungen und Gefühle zum Ausdruck bringen, welche die Stellung der tschechischen Nation in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts erweckten. Damit ist jedoch ihr Bedeutungspotential bei weitem nicht ausgeschöpft. Aus dem fast konventionellen Topos Prags („einst berühmt, nun gedemütigt“) schuf Mácha im zweiten Plan dieses Textes die Heideggersche Metapher „des Geworfen-seins“ der menschlichen Existenz in die Zeit, die weit den zeitgenössischen Horizont der patriotischen Ideen überschreitet._4 Máchas Prosa und gemeinsam damit eine Reihe seiner Gedichte mit den Motiven Prags machen auf die Tatsache aufmerksam, dass die Stadt nicht nur von sich selbst heraus erzählt, d.h. aus dem Potential des kollektiven Gedächtnisses und des Ur-Textes._5 In den Erzählakt müssen auch das Subjekt und gemeinsam mit ihm auch die Geschichten, die das Phänomen Stadt als existentiellen Raum empfinden, eingeschlossen werden. Zur Vollständigkeit ergänzen wir: Diese Linie, an deren Beginn Mácha steht, können wir in den Werken einer Reihe anderer Autoren, besonders am Ende des 19. Jahrhunderts (Jakub Arbes, Julius Zeyer, Jiří Karásek, Antonín Sova, Otokar Březina) weiter verfolgen.

II. Prag als Raum der menschlichen Existenz
Im bekannten Werk von Jan Amos Comenius erscheint die Stadt als Labyrinth der Welt. Der Pilger, der darüber verzweifelt ist, was er auf seiner Pilgerfahrt durch die Stadt erkannte und an den Rand des Todes geriet, rettet sich dadurch, dass er in das verlassene Kämmerchen des eigenen Herzens eintritt. Hier spricht zu im Christus, in diesem Raum begreift er den Sinn des Lebens und schafft es, der Eitelkeit der Welt – der Stadt – aus dem Weg zu gehen. Die allegorische Konstruktion, mit der Comenius arbeitet, nutzt den traditionellen Topos des religiösen Denkens zum Ausdruck des Gegensatzes zwischen der materiellen und der geistlichen Welt aus (Stadt/Labyrinth × Herz). Das Bedeutungspotential der bildlichen Allegorie der Stadt und des Herzkämmerchens ist jedoch viel breiter und umfasst auch die viel kompliziertere und weniger eindeutige Beziehung zwischen beiden Räumen aus, als dies das ideelle Konzept der Reformationserwägungen des 17. Jh. andeutet. Nach diesem Schema bedroht „die Stadt“ den Menschen, setzt ihn Lug und Trug, der Eitelkeit, dem Chaos und später dann dem Tode aus. Nichtsdestoweniger besteht das menschliche Los darin, gerade in diesem Raum zu leben – und die Möglichkeit des Übergangs in einen anderen Raum ist eine Vision, die auf der Ebene der religiösen Spekulation realisierbar ist (übrigens: Auch diese Überzeugung lässt sich aus dem Werk von Comenius herauslesen).

Der Mensch entweicht also nicht aus der Reichweite der „Stadt“, trotzdem kann er darin seinen eigenen, inneren Raum bewahren: Hier kann er nur er mit sich selbst sein – oder mit Gott, hier muss er sich nicht den Anforderungen der äußeren Welt unterwerfen, sondern er kann sich von dieser Zweckgebundenheit abnabeln und „wohnen“ – d.h. seine Existenz so erfüllen, wie es Martin Heidegger ausspricht: „Dem gegenüber bedenken die eigentlichen Bauenden, dass das blosse Leben, das man lebt, noch kein Wohnen ist. Denn der Mensch „wohnet“, wenn er wohnt, nach dem Wort Hölderlins „dichterisch … auf dieser Erde.“_6

Der moderne Mensch, der existential in der biblischen („dem Labyrinth“) und daseinsmäßig in der realen Stadt verankert ist, ist eigentlich ständig der Spannung zwischen diesem äußeren Raum und seinem eigenen – dem inneren Raum ausgesetzt, er muss ständig die Art und Weise suchen, wie er in sich „wohnen“ und dabei nicht in dem entpersonifizierten, entleerten Dasein ertrinken soll, das gerade der Stadt droht. Die Konfrontation beider Räume spielt sich in diesem existentialen Sinn in der Sphäre des individuellen Erlebens ab. Die Subjektivität und die Einzigartigkeit geht aber nicht als Quelle der Erzählung verloren, die in den Text Prag eine neue Schicht der Begebenheiten einträgt. In konkreten Werken kann man beobachten, wie sich in deren Struktur beide diese Quellen – der Ur-Text Prags und die existentiale Wahrnehmung des Raums – verknüpfen.

III. Prag „unter der Obhut der Mieter“
Jan Neruda ist der erste tschechische Schriftsteller, von dem gesagt werden kann, dass er aus dem Geist der Stadt schuf: Prag war für ihn nicht nur historische Kulisse oder ein Symbol vergangenen Ruhmes. In seinem Werk – angefangen bei den ersten Gedichtsammlungen bis hin zu den Feuilletons aus den achtziger Jahren des 19. Jh. – tritt Prag als Stadt der Gegenwart und gewöhnlicher Menschen auf. _7

Die Kleinseitner Geschichten sind in eines der attraktivsten Prager Viertel situiert, aber Nerudas Aufmerksamkeit gehört nicht den majestätischen Denkmälern, auch nicht dem romantischen Reiz der Palais, Gärten und Gassen. Aus diesem Repertoire schöpfte er nur wenig, im Wesentlichen nur das, was er für die allernotwendigste Lokalisierung seines Erzählens benötigte. Im Gegensatz dazu tritt in den Vordergrund seiner Geschichten ein ganz alltägliches Geschehen, kleine Ereignisse des Alltagslebens, sich zum größten Teil in den Höfen der Häuser, in den Gasthäusern und verfallenen Gässchen abspielend. Die Bewohner dieses Viertels lösen offensichtlich auch kein Dilemma zwischen der „Stadt“ und ihrer „inneren Welt“. Darauf, was sich unter der äußeren Schale ihres Handelns und Denkens verbirgt, weist Neruda nur indirekt hin.

Auch wenn er das mit einem gewissen Abstand tut und es mit Ironie, Humor, sogar mit einer gewissen Menge Sentiment maskiert, trägt diese Stilisierung des Erzählers/Subjekts eine ernste und tiefere Mission, als nur ein witziges und geistreiches Vergnügen auf Kosten der wunderlichen Kleinseitner Gestalten (Figurky). Als würde Neruda sagen: Das alles – das Alltägliche und Banale, das Törichte, das etwas lächerliche und manchmal tragische Gewimmel der gewöhnlichen Leute, das ist all das, wodurch die Stadt lebt, gerade dieses Mosaik der individuellen Schicksale schafft das wirkliche Antlitz der Stadt._8 Unter diesem Gesichtspunkt kann man Nerudas Kleinseitner Geschichten als den ersten Schritt zur Verknüpfung des existential aufgefassten Raums in die Erzählung Prags auffassen._9 Vom Ende des 19. Jh. bis hin zur Gegenwart kann man auf die Profanierung der Darstellung Prags – genauer gesagt, des städtischen Leben – stoßen. Dieses Prinzip wurde auch in der Prosa von Bohumil Hrabal geltend gemacht. Ebenso wie Neruda ist auch Hrabal ein Dichter der Stadt. In seinem Falle geht es jedoch um die Reflexion der ästhetischen Konzeption, deren Bestandteil das Schaffen im Sinne der Poetik der Stadt und des Alltags war. Diese Ausrichtung wurde auch im Programm der künstlerischen Gruppe Gruppe 42 zum Ausdruck gebracht, der Hrabal sehr nahe stand. Einen bedeutenden und beständigen Impuls erhielt Hrabal in dieser Zeit auch vom Nachkriegssurrealismus. Aus dieser inspirierten Sicht der Welt und der Imagination erwuchs auch der individuelle narrative und sprachliche Stil Hrabals Prosawerke. Einer der kennzeichnendsten Charakterzüge dieser Poetik äußert sich in dem sog. pábení, das lässt sich als eine besondere Erzählweise bezeichnen, die eher auf die gefühlsmäßige Beziehung zum Erzählgegenstand gegründet ist als auf die Logik der Mitteilung oder auf die Glaubwürdigkeit der beschriebenen Erscheinung. Ähnlich wie bei den naiven Malern oder auf den Gemälden von Marc Chagall stört auch Hrabals pábení die äußere Welt als System – als „Stadt“, deren Zweckmäßigkeit – „der Architektur der Beziehungen“ – sich der Mensch unterordnen muss. Hrabals Figuren bewegen sich in einem Raum, wo nichts existiert, was bestimmt, was hoch oder was niedrig ist. Statt dessen kommen die Phantasie, das Spielerische, die Überraschung über unerwartete Zusammenhänge, über Veränderung des Alltäglichen in ein Wunder zu Wort.

Schöpferkraft und Phantasie öffnen so den Raum für das dichterische Wohnen, sei es in einem abgebröckelten Mietshaus in der Straße Na Hrázi, im Schmutz des Altstoffhandels oder in dem Milieu des trostlosen Gasthauses mit dem Namen Automat der Welt. Der Maler Vladimír Boudník, eine der Figuren aus dem Roman Vita Nuova drückt es so aus: „Ich habe den Schlüssel zu Banalitäten, denen einzig ich eine metaphysische Wirkung verleihen kann.“ Prag bestimmt das Schicksal einer Reihe von Hrabals Gestalten (Pipsi, Hanťa, Doktor/Hrabal und seine Freunde Boudník, Maryško u.a.), besonders in der Romantrilogie Hochzeiten im Haus, in der Erzählung Zu laute Einsamkeit; aber darin, wie jede dieser Personen die Welt wahr nimmt, wie sie auf das Milieu reagiert, in dem sie leben muss, äußert sich die Verankerung in der individuellen inneren Welt, die wirklich gerade durch ihre Dimension das dichterische Wohnen ist. Ich nehme an, darin lässt sich auch die Intention aller Prosawerke von Hrabal erblicken.

In der Beziehung zu Prag äußert sich Hrabals „Faszination durch die Alltäglichkeit, die eine metaphysische Wirkung haben kann“ _10 schon in der Geschichtensammlung Inserat für ein Haus, in dem ich nicht wohnen will und gipfelt in dem Collage-Buch Diese Stadt ist unter der gemeinsamen Obhut der Mieter (1967). Prag erzählt hier mittels des spezifischen Textes – respektive der Textur –, die durch die Verknüpfung von Bild (Fotografie) und Wort entstand. Beide Komponenten behalten ihre semantische Autonomie: 1) Die Fotografie zeigt das hässliche, sogar depressive Antlitz des devastierten Prags, auf den Fotos geraten die festgehaltenen Dinge in neue, unerwartete Beziehungen, aus denen eine besonderer grotesker Charakter entsteht, eine surrealistische Szene, aus dem Hässlichen blitzt das Schöne hervor (oder wenigsten das Interessante): so, als ob aus der abgebröckelten Wand die Umrisse einer abstrakten Zeichnung hervortreten. 2) Den Kommentar bilden Auszüge aus einigen unterschiedlichen literarischen Quellen: von der Schrift Attribute der Heiligen, Mysterium der Schachkunst über Gerichtsprotokolle bis hin zu Gesprächen auf der Straße. Mit Ausnahme des Buches Prager Sagen (Popelka Biliánová) hat keines dieser Werke etwas mit Prag gemeinsam. Jedoch auch zwischen den Zitaten daraus existiert keine logische oder motivische Verknüpfung. Die Auszüge bilden ebenso eine nicht-homogene, bizarre Mischung wie die weggeworfenen Dinge auf einer Müllhalde, die ihren Zweck und damit auch ihren Sinn verlieren. Genauso wirken die städtischen Realien auf den Fotos. Paradox äußert sich jedoch in dieser Textcollage eine viel stärkere einigende Bedeutungsintention: „Die nicht-stimmigen Sätze knüpfen unter sich eine notwendige Freundschaft an, so wie alle Dinge und alle Menschen, die in das riesige Laken der Großstadt zusammengefasst und eingewickelt sind“ – gibt Hrabal im Vorwort an. Den Schlüssel zu dieser „Freundschaft“ aber muss der Leser selbst finden.

Die Parallele zwischen Bild und Kommentar erinnert an die Kraft des gelockerten semantischen Potentials nicht nur der Dinge, sondern hauptsächlich der Worte, die ihren ursprünglichen Kontext verloren haben und die so aus den gewöhnlichen, für die Verständigung erforderlichen Verknüpfungen ausgeschert sind. Das Fehlen oder nur die äußerst unbestimmte Anwesenheit dieser Zusammenhänge schafft ein Chaos, das jedoch den fruchtbaren Keim einer neuen Form darstellt. Und das ist auch der gemeinsame Nenner aller Zitate und das Ziel ihrer Mitteilung: die Wurzeln der Phantasie und der Kreativität, die tief in der Sprache verankert sind, aufzudecken, im Chaos der schon (oder bisher) ungeordneten Worte, aus denen die Äußerung des Dichters erwächst, auch die Alltagspoesie, jenes metaphysische Wunder. Wir befinden uns wieder in der Welt des „pábení“, d.h. an der Quelle des Seins der Hrabalschen Figuren:

„Der König kann sich verstecken und Matt kann er nicht decken! Er hat kein positives Verhältnis zu unserer Gesellschaftsordnung, denn er hat 0,67 ha Garten Privatbesitz. Der Genannte versprach, wenn ihn seine Gattin nicht auf die Palme bringen wird, dann wird er eine solche Sache nicht wieder tun. Nun begann eine andere Art von Krise. Eine doppelte Paralyse. Die Axt im Kopf. Josafath.“

Durch die Verwebung von Wort und Bild entsteht in diesem Buch eine Geschichte über die existentiale Situation der Stadt selbst, die dadurch beunruhigt ist, dass sie einen inneren Widerspruch enthält. Hrabal macht darauf schon im Prolog aufmerksam: „Wenn wir aber Scharfsinn und Ironie verlassen, dringen wir in das normale Leben der Einwohner dieser Stadt, der Männer, Frauen und Kinder, ein, die durch diese Straßen und Plätze von der Arbeit und aus den Schulen zurückkehren. Und dann stellen wir fest, dass die Schönheit des Verfalls in direktem Gegensatz zur Erhaltung der architektonischen und künstlerischen Schönheit steht, die dieser Metropole die Hirne der königlichen Baumeister und Arbeiterhände verliehen haben.“ Es scheint, dass dieses Buch über Prag Hrabal die Möglichkeit gab, sich auch darüber auszusprechen, was sonst bei ihm im Element des pábení verloren geht – zu einer gewissen überzeitlichen Dimension: Der Stadt verleiht diese ihre Architektur und ihre Geschichte, dem Alltagsleben dann die Begebenheit, aus der einmal ein Mythus entstehen wird.

IV. Kämpfe mit der Stadt
Die Profanierung der Stadt – sei es im Stil des späten Biedermeier oder im Geist der Alltagspoetik – verschob den Schwerpunkt des Erzählens in einen verkleinerten, intimen Raum, in dem das Alltagsleben der gewöhnlichen Leute abläuft. Für die eigentliche Domäne des existential wahrgenommenen Raums der Stadt können wir aber die Geschichten ansehen, die einen bestimmten Konflikt thematisieren zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen der Stadt als Symbol der Veränderungen in der Zeit und dem „Kämmerchen des Herzens“, in dem der Mensch einen Festpunkt für die Bestätigung seiner Identität sucht.

Unter dem Gesichtspunkt der Poetik wird in diesem Prosatyp die Intertextualität (Verweise auf Legenden und Sagen über bestimmte Lokalitäten, Personen, Ereignisse, das Gebiet der hermetischen Wissenschaften u.a.) geltend gemacht Der Erzählstil ist durch die Existenz irgend einer unerklärlichen Erscheinung – respektive eines persönlichen Geheimnisses – vorbestimmt. Damit hängt auch die Benutzung der eine erforderliche Atmosphäre evozierenden Topi (dunkle Winkel alter Viertel, unbewohnte Häuser oder Räume, Kathedrale, Friedhof, Gefängnis u. ä.) zusammen.

Wie schon erwähnt wurde, gaben den Beginn dieser Linie die Prosa und einige Gedichte von K. H. Mácha vor. Ende des 19. Jh. ist das Thema Prag mit einem Geheimnis, dessen Aufdeckung das Leben der Figuren kennzeichnet, besonders für das Schaffen von Jakub Arbes charakteristisch (Romanetta
Heiliger Xaverius, Kreuzigung u.a.)

Einen weiteren bedeutenden Schritt in diese Richtung machte später der bekannte Prager deutsche Schriftsteller Gustav Meyrink._11 In seinen von Prag inspirierten Werk wird der erwähnte Konflikt zwischen dem inneren und dem äußeren Raum unter einigen Aspekten betrachtet, die sich gegenseitig durchdringen und ergänzen (außer den phantastischen, von Legenden inspirierten Vorstellungen sind das besonders Okkultismus, Parapsychologie und Magie).

In einer der bekanntesten Erzählungen Meyrinks Golem (1915) ist Prag als Ur-Text auf zwei Ebenen anwesend: Zum einen ist das die Lokalität des Judenghettos, welches das Gefühl der geheimnisvollen, verzauberten Stadt evoziert; an diese Ebene schmiegt sich eng die literarische Tradition der jüdischen Sagen an, besonders über den Rabbi Löw und sein Lehm – Monstrum Golem. Das zentrale Thema der Geschichte trägt aber die Hauptfigur: der Antiquitäten – Restaurateur Athanasius Pernath (zugleich Erzähler), der inmitten dieser wunderlichen Stadt voller Schatten und Schreckbildern der Vergangenheit sich selbst – seine Identität-sucht. Auf diesem Weg zur Selbsterkennung zeigt sich die Stadt dem Helden als wunderliches metaphysisches Wesen, das in sich das Leben der Menschen aus der Vergangenheit angesammelt hat und dabei in der Gestalt der gegenwärtigen Bewohner weiter lebt:_12 „In dem Menschenalter, das ich nur hier wohnte, hat sich der Eindruck in mir fertgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden in der Nacht und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen… Oft träume mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhafte Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, dass sie die heimlichen eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäussern und es wieder an sich ziehen können – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es im kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzu fordern.“

Auf dieser Ebene, wo sich all das abspielt, was die Realität überschreitet (geheimnisvolle okkulte Praktiken, Träume, aber hauptsächlich die Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart), ist der Hauptheld Golem, den „ein einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob“(33). Golem und dessen Anwesenheit („etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen treibt…“ 47) hängt nicht nur damit zusammen, dass die Vergangenheit der Stadt in deren Gegenwart ständig weiter lebt; es ist zugleich ein Symbol des Bösen, der Destruktion, die in das Leben der Menschen und der Stadt eingreift, durch ihre Mauern in die „Räume ohne Türen“ dringt (hier stößt auch der Held der Geschichte darauf), oder er versteckt sich hinter der Maske eines bekannten Antlitzes. Vor diesem Golem fällt jede Barriere, die den inneren „Raum des Herzens“ vor der Gefahr der „Stadt“ schützen sollte. Das ist aber unmöglich, weil beide Räume nur der eine Fluss der Zeit durchfließt und in diese die gleiche Unsicherheit und Bangigkeit hineinträgt. Trotzdem existiert eine Art und Weise, in diesem Fluss nicht zu ertrinken, seinen Raum zu bewahren. Der Held (Pernath) sieht ihn in der Fähigkeit, in sich selbst einen „Dolmetscher“ zu schaffen, „der mir übersetzt, was die Instinkte ohne Worte raunen, darin musss der Schlüssel liegen, sich mit dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verständigen“ (102). Nicht nur dieser Gedanke, sondern eine ganze Reihe weiterer Verfahren und Motive aus der Prosa Meyrinks fand im Werk der Gegenwartsautoren ein Echo.

In der Romantrilogie von Daniela Hodrová Die gepeinigte Stadt tritt die Heldin „in den lärmenden Strom ihres Blutes“ (Gustav Meyrink), um hier in der Gestalt anderer Figuren sich selbst zu begegnen. Prag stellt einen mit Zeitschichten realer und literarischer Schicksale gefüllten Raum dar, der erneut in den Gestalten in der Gegenwart auflebt. Das Haus, in dem Sofie Syslová (auch Eliška Beránková und die Erzählerin selbst) lebt, die Straßen in der Umgebung, der Friedhof, auf den sie aus dem Fenster schaut – all das scheinen beklebte Fragmente eines Textes zu sein, in den das Leben derjenigen hineingeschrieben ist, die hier vor ihr lebten. Dabei ist diese Geschichte nicht zu Ende, sie geht weiter, aber nicht als äußeres Geschehen oder Ereignisse, sondern als Verweben von Erinnerungsfasern, angehörte Erzählungen, Assoziationen und unbewusste Vorstellungen. Alle diese Fasern führen zu Puppen, in denen sie sich verbirgt und auch die Identität der Gestalten und Orte verändert: _13 „Nicht nur Menschen, auch Orte verpuppen sich, doch niemand weiss genau, wann der Augenblick ihrer Häutung eintritt, wie viele Verwandlungen sie durchmachen müssen. Eines Tages spannt sich ihre Oberfläche, und einige Stellen platzen … Und dann fällt die Puppe ab, und unter ihr kommt dieser verborgene, echte Ort zum Vorschein, der einmal war und wieder sein wird“. In bezug auf die Geschichte realisiert sich die Verwandlung wie folgt: „Hätte Herr Turek sich aber nicht erinnert, hätte der Friedhof sich nicht in den Weinberg verwandelt, der früher einmal hier gewesen war, wäre der Engel nie aus seiner Stuckpuppe getretten und mit Herrn Klečka fortgegangen“.

In diesem Gewebe verliert die Zeit ihre Linearität und der Raum die Bestimmtheit seiner Abgrenzung. Es ist schwer zu entscheiden, ob man darin die Übertragung der inneren Unsicherheit des Subjekts auf die Stadt sehen soll oder umgekehrt, das Zerfließen des Subjekts in dem entpersönlichten Kreislauf der Veränderungen der äußeren Welt.

Sei es so oder so, die existentialen Fragen nehmen auch im anderen Werk zu (Utraquist). Der Zweifel an der Möglichkeit die eigene Identität zu erfassen, den Festpunkt der Existenz zu finden, die Vergangenheit durch einen vermittelten Vorgang (Romanfiktion) von der Realität zu unterscheiden – alle diese Fragen steigern sich im letzten Werk der Trilogie unter dem Titel Théta. Prag verändert sich hier in die gepeinigte Stadt, durch die man hindurch muss, ähnlich wie durch das Fegefeuer ein anderer Pilger, der Dichter Dante, hinabstieg. Durch diesen intertextuellen Verweis erweitert sich das Bedeutungspotential der Stadt um die symbolische Ebene, an die besonders in den Motiven des Todes, des Herumirrens, und der Bangigkeit auch von Comenius in seinem Labyrinth der Welt erinnert wird: Ich möchte schreiben, dass ich durch das Wolschaner Tor trete, und in dem Moment wird mir bewusst, dass ich eigentlich nicht weiss, wo sich dieses Tor befindet. Ganz bestimmt ist es nicht identisch mit dem Tor zum Wolschaner Friedhof. Auf durch dieses Tor tritt man in den Tod, oft geht man aber (jedenfalls in meinen Romanen) nicht nur zu Wesen, die nicht mehr leben, sondern auch zu solchen, die niemals gelebt haben. Es ist also gleichzeitig das Tor der Geburt oder der Schöpfung. Es befindet sich irgendwo im Raum der Stadt der Trauer.

Das bedeutet allerdings, dass man sich vor dieser Stadt in die Welt des Romans verbergen kann: „Der Roman war für mich das Tor, durch das ich mehr als zwei Jahre lang den Raum der Buchstaben betrat, um mich darin vor der Welt zu verstecken – vor der traurigen Wirklichkeit der Stadt, die auf ihren Untergang (oder ihre Erlösung?) zuging“.

Wohin soll man aber gehen, wenn der Roman vollendet ist? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Vielleicht, dass jenes „Verbergen“ viel eher ein „Kampf mit der Stadt“ um die Wiedererlangung des inneren Raums ist; vielleicht, dass es dabei nicht so sehr um das Finden des „Paradieses des Herzens“ ging, als vielmehr um die Bestätigung des Glaubens an die rettende Kraft des „schöpferischen Geistes“. Vielleicht geht es um das Sein, das ein „dichterisches Wohnen“ sein will…_14

Mit Geheimnissen und Mysterien ist auch das Prag verbunden, in dem sich die Handlung des Romans Die andere Stadt (1993) von Michal Ajvaz _15 abspielt. Die Geschichte beginnt ganz im Geiste der Meyrinkschen Phantasie: Der Hauptheld (Erzähler) entdeckt zufällig im Antiquariat ein besonderes violettes Buch, mit Buchstaben bedruckt, die „keiner Schrift unserer Welt zugeordnet werden kann“. Bald darauf zeigt sich, dass jeder, der mit diesem Buch in Kontakt kommt, wunderlichen, unerklärbaren Erscheinungen begegnet, als ob diese auch in eine andere Welt gehören würden: exotische Tiere, Fische, Erscheinungen wunderlicher Rituale, chtchonische Wesen – all das kann man unter bestimmten Umständen sehen, wie es sich in den Straßen Prags herumtreibt. In diesem fantastischen, magischen und spielerischen Tanz gleicht Prag eher dem exotischen Milieu, das wir aus den Romanen von Marquez kennen. Dieses Antlitz stellt sich jedoch nur in der Berührung mit der „anderen Stadt“ ein. Dabei ist die Grenze zwischen beiden Räumen „nicht entfernt … sie luminesziert blass in engster Nähe …aus dem Augenwinkel schauen wir ständig, ohne uns dessen bewusst zu sein, in eine andere Welt (8)“. Der Erzähler wird von dieser Welt angezogen, er ahnt, „dass dort hinter der Grenze das Geheimnis unserer Welt verborgen ist“ und verfolgt deshalb beständig dessen Spuren und fahndet nach dem Sinn der wunderlichen Zeichen. Dabei nimmt er, wie er sich allmählich des ganz prinzipiellen Unterschieds der „anderen Stadt“ bewusst wird, auch viel deutlicher die Beschränkung der „normalen Welt“ wahr. Diese hat zwar ihre Ordnung, Rationalität und ihren Zweck, gewährt uns das Gefühl der „Rettung“ und des „Zuhauses“, dabei aber verliert sich der Sinn, das Leben darin ändert sich in ein leeres Ritual. „Die andere Stadt“ ist kein positiver Gegensatz zu dieser Welt, sie ist einfach nur ein Raum ganz anderer Zusammenhänge, einer anderen Zeit. Hier kann man nicht die „Formlosigkeit des Anfangs bis zur Formlosigkeit des Untergangs… das wirbelnde Chaos von der festgefügtesten Ordnung“ (155) unterscheiden, aber dabei kann man – gerade irgendwo in der Tiefe dieser Einheit – eine äußerst verwunderliche Kraft ahnen, die der Anfang von allem ist, auch unserer Welt und deren Ordnung. Deswegen beruht auch die Existenz der anderen Stadt auf der Wahrheit, die ursprünglicher ist als die Forderung des logischen Sinns, der Fragen und Antworten, auf die Wahrheit, die in unserer Welt zwar unerklärlich ist, aber trotzdem „direkt mit dem Wohnen verwachsen“. Das Problem beruht darin, dass die andere Stadt nicht in unsere Welt integriert werden kann, man kann nicht in sie oder aus ihr überwechseln. Unter diesen Umständen gerät der Held in Grenz – und unhaltbare Situationen, weil sein Leben „eine Existenz an der Grenze wurde.: Ich lebte wunderlich zwischen zwei Reichen, in dem einen war die Flamme des Sinnes am Verlöschen, in dem anderen konnte sie sich nicht entfachen.“

Zu dieser Erkenntnis bringt der Autor seinen Helden im letzten Kapitel und zugleich stellt er ihn damit vor die Entscheidung über die Tat, mit der er definitiv und nicht rückkehrbar die Grenze überschreitet. In dieser Ausmündung der Geschichte stoßen auch zwei Achsen aufeinander, die deren narrative Konstruktion schaffen: Die eine ist ein wenig die Marquezsche Variation einer traditionellen Begebenheit mit einem Geheimnis, das auch mit dem magischen Image Prags rechnet, die andere Achse hat den Charakter einer Allegorie, die im Bild der „anderen Stadt“ an eine irgendwie verborgene respektive besser – längst verlassene – Dimension des menschlichen Daseins erinnert; in der Einstellung des Helden zu dieser Welt und besonders in seinem „Schritt über die Grenze“ ist bildlich das Recht des Menschen erklärt und zugleich verteidigt, aus der Reichweite unserer Welt zu verschwinden und eine andere Anordnung anzunehmen: „Es öffnete sich vor mir eine Landschaft, vor der man uns das ganze Leben lang bewahren will, sie streiten uns das Recht auf eine Niederlage und das Recht auf Exil ab, das Recht, sich zu verlieren und entlang der Wand zu irren, Vertriebener zu sein in der Welt der Winkel, auf dunklen Höfen des Daseins. Sie sind so aufdringlich, ständig drängen sie uns Rettung und ein Zuhause auf…“ (155). Die allegorische Achse entfernt den Helden auch von der existentialen Problematik des Subjekts (so, wie es bei Hodrová und auch bei Meyrink ist). Die Hauptgestalt des Romans von Ajvaz erlebt keinen Streit zwischen dem inneren und äußeren Raum. Ihre Rolle besteht im „Zeugnis ablegen“ und Wegaufzeigen: Deshalb geht die Erzählung auch ständig in den Kommentar über, in dem der Erzähler im wesentlichen die Zeichen interpretiert, in denen sich die Existenz der „anderen Stadt“ äußert.

Mit einer ähnlichen Mission, nur ein paar Jahrhunderte früher, begab sich der Pilger in Comenius’ Schrift Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens in die Welt. Auch sein Weg endete in der Erkenntnis, dass die eine Welt, die, die nur der Ort von Eitelkeit und Tod ist, dem Menschen nicht reicht. Comenius suchte ständig die Art und Weise, wie diese zu verbessern sei. An der Schwelle des dritten Jahrtausends steht der Mensch solchen Bemühungen skeptisch gegenüber. Aber ständig braucht er den Grundentwurf des Raums zu kennen, in dem ihm gegeben ist zu leben und er muss auch seine Stellung verstehen.

Gerade so eine Forderung erfüllt die Prosa von Ajvaz. Die Entscheidung des Helden in die „andere Stadt“ fortzugehen, entspricht vor allem der gedanklichen (philosophischen) Romankonzeption und stellt bildlich deren Höhepunkt dar. In diesen Intentionen ist die „Überschreitung der Grenze“ eine symbolische Betonung der Bedeutung, welche die „andere Stadt“ für unsere Existenz hat. Dem Erzähler nach sind diese Weggänge für diejenigen, die bleiben, „das Erinnern an einen anderen Raum, das Erinnern, bei dem die gültige Ordnung erbebt und für eine Zeit lang die schlafende Kraft geweckt wird, welche die Ordnung insgeheim errichtet und belebt“ (157). Es ist nicht bedeutungslos, dass zu diesem Gedanken sich noch unauffällig der Appell zu Toleranz und Verständnis für diejenigen, die es verstehen, „mit einem Lächeln und mit leeren Händen in die Dunkelheit zu gehen“, anzuschließen.

Unter dem Aspekt unserer Abgrenzung ist das Hauptthema dieses Romans nicht der Kampf des Menschen mit dem Raum; eher handelt es sich um das Bewusstsein dessen, was für ein Raum unseres Lebens überhängt. Ajvaz legte in die Geschichte der Stadt das Bild, das auf der allgemeinen philosophischen Ebene die Grundlagen der existentialen Situation der Welt betrifft. Auch wenn die magische Phantastik den Prager Realien fast surrealistische Züge verleiht, nimmt die dominante Stellung hier der Topos „Stadt“ (= Welt, Labyrinth) ein, der die vorher aufgestellte philosophische These konzeptualisiert. Prag tritt so in ein irgendwie altneues Spiel ein, das vieles über die Gefühle der Generation an der Wende zum dritten Jahrtausend aussagt, ebenso über die ewige Wiederkehr der dichterischen Vorstellungen.

FUßNOTEN

_1
Klotz 1969.

_2
Die spezifische und charakteristische Atmosphäre der Stadt Prag in der Beziehung zu den verschiedenen historischen Perioden und Epochen thematisiert ausführlich K. Krejčí in seinem Buch (Krejčí 1967).

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„Praho! Praho! ty mé vlasti srdce kamenné! – O jak hluboko jsi sklesla v nepravostech svých! – Vrať, o vrať se! Šedý mrak – oblak toť slzí synů tvých – nad tebou spočívá rozestřen, na něm dřímá anjel záhuby, čas to mnohomohoucí…“ – (Prag! Prag! du, meiner Heimat steinernes Herz! – O wie tief du gesunken bist in deiner Lasterhaftigkeit! – Komm zurück, komm doch zurück! Die graue Wolke – das ist die Tränenwolke deiner Söhne – hängt ausgebreitet über dir, auf ihr schlummert der Würgengel, die allmächtige Zeit…“). Die literarische Inspiration zu dieser Erzählung schöpfte Mácha aus dem deutschen Almanach Mephistopheles. Ein politisch-satyrisches Taschenbuch auf das Jahr 1833, herausgegeben in Leipzig von Deutsch-Prager Karl Herlossohn. Die dichterische Darstellung der tragischen Ereignisse der tschechischen Geschichte, die auch Aufforderungen zum Freiheitskamf beinhaltete, fand ein breites Echo unter der tschechischen Wiedergeburtsintelligenz. Vgl. Karel Janský (Janský 1953, s. 143–148); Zuzana Urválková (Urválková 2002).

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Diese Tendenz findet ihren Ausdruck auch in anderen Gedichten Máchas, z. B.: V chrámu, Nesmrtelnost, Hrobka králů a knížat českých (Mácha 1959).

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In diesem Sinne erscheint auch Prag als architektonischer Raum des Kultur-Gedächtnisses. Hierin beziehe ich mich auf Renate Lachmanns (Lachmann 1991) Interpretation der „architektonischen“ Mnemotechnik in der akmeistischen Kulturosophie.

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Zit. aus: Hebbel – der Hausfreund (Heidegger 1993, s. 154).

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Diese Tendenz ist in bedeutendem Maße auch programmhaft und hängt mit dem neuen literarischen Programm der ganzen dichterischen Generation des Máj-Kreises (1958) zusammen.

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Vgl.: „Vielleicht schreibe ich einmal eine besondere, natürlich besonders geistvolle Abhandlung überr diesen Zusammenhang von Göttern und Menschen, hier möchte ich nur sagen, dass die Götter, die sich bei „Steinitz“ trafen, ohne Zweifel echte Kleinseitner Götter waren. Die Kleinseite – Häuser wie Menschen – haben etwas Stilles an sich Würdiges, Altertümliches, sagen wir auch verschlummertes, und in all das waren jene Herrschaften eingesponnen.“ (Pan Ryšánek a pan Schlegel, in: Jan Neruda, Kleinseitner Geschichten…)

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Eine andere Sache ist, dass sich Nerudas Biedermeierbild der Kleinseite mit der Zeit in einen konventionellen Topos verwandelte, der die Grenzen der Literatur überschritt – ein ähnliches Schicksal hatten übrigens auch später Hašeks Švejk und das Werk von Franz Kafka.

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Vgl. Jankovič 1991, s. 193.

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Gustav Meyrink, geb. 1868 in Wien, lebte in den Jahren 1884–1904 in Prag. Sein berühmtester „Prager-Roman“ Golem, erschein 1913 als Romanfolge in der Zeitschrift Die weissen Blätter, in Buchform erschien Golem 1915.

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Zit. aus: G. Meyrink, Der Golem. Ullstein 1981.

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Zit. aus dt. Übersetzung, Gepeinigte Stadt…

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Buch der dichterischen Essays von Hodrová Ich sehe eine Stadt (Prague – visit priveé) hat den Charakter des oben erwähnten Palimpsests: Es figurieren hier historische Ereignisse (längst vergangene und unlängst geschehene), die den Hintergrund einer neuen Mini-Begebenheit (persönliche Erinnerung, kleine alltägliche Episode u.a.) bilden. Durch die Verknüpfung mit der Gegenwart verlieren die historischen Fakten ihre sachliche Bestimmtheit und es bleibt nur so etwas wie eine Essenz übrig, ein überzeitliches Wesen der Ereignisse, das gerade in der Zeitschleife an die Oberfläche tritt, die eine Wiederholung, eine Rückkehr ermöglicht und so auch die ständige Konversation der Stadt und der inneren Welt dessen, der sie durchläuft.

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M. Ajvaz (1949), zeitgenössischer Autor auch anderer, in das Prager Milieu situierten Erzählungen: Vražda v hotelu Interkontinental (1989), Návrat ztraceného varana (1991), Tyrkysový orel (1997). In all diesen Werken zeichnet sich deutlich eine philosophische Konzeption ab, die magische Visionen, Mythen-Travestien, groteske Szenarien sowie metaphorische Erzählsprache fokussiert.

LITERATUR

Heidegger, Martin: Básnicky bydlí člověk. Oikumenh, Praha 1995.

Jankovič, Milan: Tři tečky v prolukách Bohumila Hrabala. In: Nesamozřejmost smyslu. Československý spisovatel, Praha 1991.

Janský, Karel: K. H. Mácha. Život uchvatitele krásy. Melantrich, Praha 1953.

Klotz, Volker: Die erzählte Stadt: ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin. München 1969.

Krejčí, Karel: Praha legend a skutečnosti. Orbis, Praha 1967.

Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Frankfurt am Main 1991.

Mácha, K. H.: Básně a dramatické zlomky. Ed. Karel Janský. SNKLHU, Praha 1959.

Urválková, Zuzana: Česká minulost v almanachu Mephistopheles Karla Herlossohna-Herloše a v Pouti krkonošské K. H. Máchy. In: Střety národních a univerzálních modelů v české kultuře 1800–1918. Estetika 2002, č. 2–4, s. 68–72.