Eine Suche nach den Möglichkeiten der Interpretation zwischen Strukturalismus und Hermeneutik

Dieses Buch, das Studien zu Einzelwerken der tschechischen, slowakischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts vereinigt, zu rezensieren fällt schwer. Zum einen, weil es eigentlich nichts zu rezensieren gibt: Sämtliche Texte des Bandes sind, auch wenn sie für diese Publikation überarbeitet wurden, bereits an anderer Stelle erschienen, teilweise sogar schon in den 80er Jahren. Von einem neuen Beitrag zur Forschung, den es zu diskutieren gälte, lässt sich also kaum sprechen. Die Aufsätze sind auch nicht unter einem neuen Aspekt zusammengestellt, der Zusammenhänge erhellen würde, die bei der Einzelpublikation nicht deutlich werden konnten. Denn selbst die Einleitung, von der man eine solche Zusammenschau erwarten könnte, ist bereits –wenn auch nicht in dieser Form – an anderen Stellen erschienen. Und in den Einzelstudien fehlt weitgehend die Reflexion des verbindenden Zusammenhangs, also der Frage nach den Möglichkeiten der Interpretation. So entsteht der Eindruck, dass der Titel weniger als Frage denn als Konstatierung formuliert ist: Dieser Band geht nicht der weitreichenden, literaturtheoretische wie ästhetische Punkte berührenden Problematik nach, worin die Möglichkeiten und die Grenzen der Interpretation liegen, sondern stellt mehrere Interpretationen nebeneinander.

Hiermit hängt die zweite Schwierigkeit zusammen, nämlich die Frage, was es hier eigentlich zu rezensieren gilt. Denn der Band oszilliert zwischen wissenschaftlichem und populärwissenschaftlichem Anspruch. Einerseits erfährt man aus der Schlussbemerkung, dass das Buch auf der Grundlage der Habilitationsschrift des Verf.s_1 entstanden sei, was einen wissenschaftlichen Anspruch erwarten lässt. Andererseits schreibt Verf. der Interpretation die Funktion eines Bindegliedes zwischen der professionellen Zunft der Literaturwissenschaftler und der breiten Öffentlichkeit zu und verbindet damit einen (volks-) aufklärerischen Anspruch: „Darüber hinaus verbindet die Interpretation uns enger mit der nichtprofessionellen Öffentlichkeit. Mittels der Interpretation kann die Literaturwissenschaft – zumindest teilweise – auf die Formierung des ästhetischen Geschmacks der gewöhnlichen Rezipienten einwirken, versuchen die literarische Kultur zu beeinflussen, Leseformen kultivieren.“ („Navíc nás interpretace těsněji spojuje s neprofesionální veřejností. Prostřednictvím interpretace může literární věda – aspoň zčásti – působit na formování estetického vkusu běžných vnímatelů, pokoušet se ovlivňovat literární kulturu, kultivovat formy čtení.“, S. 15) Zu dieser populärwissenschaftlichen Orientierung passt die Tatsache, dass mehrere der Studien ursprünglich kommentierende Nachworte zu Neuausgaben der jeweiligen Primärtexte waren. Es ist allerdings anzunehmen, dass der interessierte „Laien“-Leser solche Studien genau dort, nämlich in unmittelbarer Nachbarschaft zum besprochenen Text suchen wird, so dass sich fragt, ob dieser ihr angestammter Platz nicht auch ihr bester ist. Der literaturwissenschaftliche Leser hingegen wird von einem Band mit dem Titel „Možnosti interpretace“ eher eine theoretisch- methodologische Abhandlung erwarten, selbstverständlich verbunden mit beispielhaften Studien zu Einzeltexten. Da wir uns hier in einem Organ befinden, in dem der wissenschaftliche Diskurs gepflegt wird, wollen wir also versuchen, aus Verf.s Einleitung sowie aus den Einzelstudien sein Konzept von Interpretation herauszuarbeiten, um es zu diskutieren.

Verf. grenzt sein Verständnis von Interpretation zunächst gegen unangebrachte Arten derselben ab. Hierzu zählt er alle Zugänge zum literarischen Werk, die diesem mit einem unpassenden, die Spezifik eines literarischen Textes nicht berücksichtigenden Code begegnen, wie dies etwa zu Zeiten des Sozialismus geschah, wenn Texte kriminalisiert wurden. In solchen Fällen werde das „grundlegende Attribut von Literarizität“ („základní atribut literárnosti“), nämlich das „ästhetische (fiktive) Wesen der Mitteilung“ („estetická [fiktivní] povaha sdělení“, S. 9) geleugnet. Deshalb „muss die Interpretation eines Kunstwerks dessen ästhetischem Wesen angemessen sein, also der spezifischen kommunikativen ,Redundanz‘ ihres Gegenstandes“ („Interpretace uměleckého díla musí být adekvátní estetičnosti, tedy specifické komunikační ,redundanci‘ svého předmětu.“, S. 10). Ein derartiges Fazit ist typisch für Verf.s Vorgehensweise: Es ist nicht falsch, aber irgendwie unbefriedigend, und zwar gar nicht so sehr, weil es „scheinbar selbstverständlich“ (zdánlivě samozřejmý“, Anm. 2, S. 26) ist, sondern weil die tiefergehende Problematik, die in solchen Aussagen liegt, überhaupt nicht reflektiert wird: Wenn man das Ästhetische eines Textes mit dessen kommunikativer Redundanz begründet, was bedeutet das für die Ästhetik und im folgenden für die Theorie wie die Praxis der Interpretation?

In einem zweiten Anlauf zur näheren Bestimmung der Interpretation behandelt Verf. die Stellung der Interpretation innerhalb der Literaturwissenschaft, speziell im Verhältnis zu deren drei Ausprägungen Literaturkritik, theorie und -geschichte. Mit allen dreien gebe es Berührungspunkte, aber zu allen auch deutliche Unterschiede: Der Kritik stehe die Interpretation wegen ihrer direkten Beschäftigung mit dem Text nahe, müsse sich aber von deren postulativer Programmatik unterscheiden. Mit der Literaturtheorie teile die Interpretation bestimmte Methoden, wenn es darum geht, „Systembeziehungen von Textelementen zu entdecken und zu benennen“ („odkrýt a pojmenovat systémové vztahy prvků textu“, S. 11). Im folgenden konzentriert Verf. sich dann auf jene literaturwissenschaftlichen Richtungen des 20. Jahrhunderts, die eine werkimmanente Interpretation vertraten, und begrüßt deren Konzentration auf das Spezifische der literarischen Mitteilung: Die Erforschung literarischer und außerliterarischer Fakten sei nur insoweit interessant, wie diese sich im Text wiederspiegeln. Es habe sich jedoch erwiesen, dass ein rein synchroner Zugang nicht möglich ist, das Werk sei immer auch offen in der historischen Zeit, Historizität lasse sich insofern bei der Interpretation nicht ausschließen. Hier nun setzt Verf. die Nähe zur Literaturgeschichte an: Für eine gelungene Interpretation seien immer sowohl eine Rekonstruktion des historischen Kontextes nötig als auch eine Konfrontation mit den Anforderungen der Gegenwart. Deshalb seien Mukařovský und Vodička sowie in ähnlicher Weise später Jauß und Iser von einer Dreiheit von aktuellem, evolutionärem und allgemeinem Wert ausgegangen.

Derartige Parallelen zwischen Konzepten der strukturalistischen Prager Schule und neueren hermeneutischen, aber auch dem Dialogizitätskonzept Bachtins deutet Verf. allerdings leider nur an, ohne diesen durchaus inspirierenden Gedanken weiter auszuführen. Und so stellt sich noch einmal die Frage nach dem Zielpublikum dieses Buches: Der Laienleser wird sich vermutlich ein wenig mehr Erläuterung wünschen, soll diese Zusammenstellung mehrerer literaturwissenschaftlicher Methoden, von denen er womöglich nur vage Kenntnis hat, nicht beim reinen Name-Dropping stehen bleiben. Umso mehr wird sich der professionelle Leser, also der Literaturwissenschaftler, eine detailliertere Ausarbeitung dieser These wünschen, ein Abwägen nicht nur der Gemeinsamkeiten, sondern auch der Unterschiede zwischen den genannten Richtungen sowie eine Erörterung der neuen Perspektiven, die sich aus ihrer Zusammenschau ergeben – nicht zuletzt für die Praxis der Interpretation, die dann auf einer theoretisch gesicherteren Basis stehen würde.

Statt dessen jedoch folgt eine Art Literaturwissenschaftler-Bashing: Die Interpretation, die – so Verf.s Fazit – sich also in einer Zone der freien Berührungen mit Literaturgeschichte, theorie und -kritik bewegt, zeichne sich durch das Anstrengende und das Risiko solch interdisziplinärer Arbeit aus. Ganz im Unterschied zum Literaturhistoriker und theoretiker, die sich angeblich beide fernab des Textes in einem Reich der Konstruktionen bewegen, sei der Interpret an den Text gebunden. Seine Arbeit, die in „direktem, belebendem Kontakt mit dem Werk“ (v přímém, oživujícím kontaktu s dílem, S. 14) entstehe, biete eine Ganzheit, die sich im literaturwissenschaftlichen Handwerk sonst allzu leicht in Detailanalysen verliere. Und mehr noch: Sie sei dem Laien zugänglich, dieser könne sie jederzeit mit seiner eigenen vergleichen und so ihre Nachvollziehbarkeit kontrollieren.

Es drängt sich die Frage auf, ob der vielbeschworene Laie hier nicht ein wenig unterschätzt wird. Vielleicht hat er gar keine so große Abscheu gegenüber literaturtheoretischen Überlegungen und methodisch fundierter Literaturgeschichtsschreibung. Selbstverständlich wird er von einem populärwissenschaftlich ausgerichteten Text deren verständliche Darlegung erwarten. Aber es ist nicht gesagt, dass er grundsätzlich eine dermaßen theoriefeindliche Position vertreten wird, wie Verf. sie hier einnimmt, offenbar in der Annnahme, nur so lasse sich Literatur breitenwirksam vermitteln. Sicherlich gibt es Richtungen der Literaturtheorie und der Literaturgeschichtsschreibung, auf die Verf.s Charakterisierung zutrifft, die ihre Gedankengebäude tatsächlich fernab der literarischen Texte entwerfen, auf die ihr Augenmerk doch in erster Linie gerichtet sein sollte. Aber es verwundert doch, einen derart allgemein und vage formulierten Vorwurf an die eigene Zunft bei einem Literaturwissenschaftler zu finden. Denn es bleibt zunächst unklar, auf wen die Kritik eigentlich zielt. Sowohl die gescholtene Zunft der eigenen Kollegen als auch die nichtprofessionelle Öffentlichkeit sollte jedoch erwarten können, dass ein derartiger Vorwurf präzise vorgetragen wird, also unter direkter Nennung der kritisierten Richtungen und in Auseinandersetzung mit ihnen. Andernfalls gerät der populärwissenschaftliche Anspruch zum Populismus, der auch dem interessierten Laien eher negativ aufstoßen wird.

An späterer Stelle dann lässt sich erahnen, dass Verf. mit seiner Kritik auf die Vertreter der Dekonstruktion zielt. Ihre Interpretationspraxis_ 2 sei einseitig auf einen bestimmten Kreis von Autoren und Werken orientiert und disqualifiziere sich so selbst. Den Vertretern des französischen Strukturalismus wirft Verf. eine starr mechanistische Anwendung ihres Methodenapparates auf literarische Texte vor, die deren Lebendigkeit nicht gerecht werden könne.

Hermeneutik und Prager Strukturalismus dagegen meint Verf. mit seiner Pauschalverurteilung nicht, beide nennt er als inspirierend für seine eigenen Arbeiten. Offenbar befürwortet er diese beiden Richtungen allerdings weniger aufgrund der spezifischen Methoden, die sie aus ihren theoretischen System herleiten, als vielmehr aufgrund der allgemeinen Herangehensweise ihrer Vertreter an literarische Texte. So erscheint Jauß Verf. vor allem wegen der „Durchdringung von allgemeinen Überlegungen und Empirie“ und wegen des „interdisziplinären Horizonts“ interessant („Jaussovu inspirativnost vidím v prolínání obecných úvah s empirií a v interdisciplinárním obzoru.“, S. 21). Diese Betrachtungsweise von Theorie und Methodik, die sich eher auf einen allgemeinen Modus konzentriert, mag auch erklären, warum Verf. so scheinbar mühelos Strukturalismus und Hermeneutik verbinden kann: Er bleibt bei Parallelen in deren Umgang mit literarischen Texten stehen, ohne zu tieferen Parallelen im Textverständnis vorzudringen bzw. solche wirklich fundiert darzulegen. Die äußerst interessante Frage nach Konvergenzen beider Modelle, nach der Möglichkeit, strukturalistische und hermeneutische Theorieansätze miteinander zu verbinden, wird so nur oberflächlich berührt. Es bleibt stattdessen bei einer bloßen Nebeneinanderstellung von Zitaten, etwa von Šalda, Vodička, Jauß und Iser, die tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Doch geht den Zitaten mit dem größeren Kontext, dem komplexen Gedankengebäude, dem sie entnommen sind, auch ihre Tiefendimension verloren.

Die Frage nach den Möglichkeiten der Interpretation (zu Beginn des 21. Jahrhunderts), die das Buch in seinem Titel aufwirft, ist höchst spannend. Denn die Interpretation büßt im Laufe des 20. Jahrhunderts an Selbstverständlichkeit ein, was sich in beiden Hauptlinien der Literaturwissenschaft, in Hermeneutik wie Strukturalismus, bemerkbar macht. Die Hermeneutik zieht die Möglichkeit, die einem Text ursprünglich beigelegte Bedeutung verstehend nachzuvollziehen immer stärker in Zweifel und reflektiert zunehmend die Voraussetzungen von Verstehen im sog. hermeneutischen Zirkel, das Einfließen des eigenen Erfahrungshorizonts in das Verständnis von Texten aus historisch anderem Kontext. In Konsequenz dessen werden bei Jauß hermeneutische Ansätze zu einer Rezeptionsästhetik ausgearbeitet. Auf der anderen Seite stehen jene Theorien, die wie der Prager Strukturalismus von einem Selbstverständnis als exakte Wissenschaft ausgehen und sich auf eine Untersuchung des manifesten Textmaterials konzentrieren wollen. Sie sprechen nicht ohne Grund statt von Interpretation von Analyse. Bei ihren Überlegungen zur ästhetischen Wirksamkeit literarischer Texte beziehen dann allerdings auch die Prager mehr und mehr die Rezipientenseite mit ein: Vodičkas Unterscheidung von aktuellem, evolutionärem und allgemeinem Wert berücksichtigt die Möglichkeit verschiedener Konkretisierungen eines literarischen Werkes. Mukařovský geht in seinen späten strukturalistischen Schriften davon aus, dass im Laufe der Zeit unterschiedliche Momente an einem Werk als absichtlich bzw. unabsichtlich wahrgenommen werden können, dass also jenes grundlegende Spannungsverhältnis, aus dem ein Werk seine fortdauernde Aktualität bezieht, selbst einem beständigen Wandel unterliegt. So vertreten beide literaturwissenschaftlichen Schulen ein zunehmend dynamisches Verständnis vom literarischen Text, das die Vorstellung von einer einzig richtigen Auslegung eines Textes ausschließt. Besonders deutlich wird dies vielleicht bei dem von Verf. als Vorbild angeführten Jankovič, in dessen an Mukařovský orientierten Überlegungen zur Nichtselbstverständlichkeit von Sinn hermeneutische Züge unübersehbar sind.

So ließe sich in groben Zügen die Lage umreißen, der Verf. bei seiner Suche nach einem adäquaten Konzept von Interpretation gegenüber steht, das dem potentiell immer vieldeutigen literarischen Werk gerecht werden soll, ohne in Relativismus zu verfallen, das sowohl die Offenheit wie auch die historische Verankerung des literarischen Werks berücksichtigen soll (S. 24). Sowohl Hermeneutik wie auch Strukturalismus sind im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einem derartigen dynamischen Textverständnis gelangt. Sie sind dabei von verschiedenen theoretischen Positionen ausgegangen und auf verschiedenen Wegen zu ähnlichen Schlüssen gelangt, wobei sie nach wie vor unterschiedliche Akzente in der Textbetrachtung setzen. Es wäre also sicherlich falsch, die einstige Frontstellung zwischen beiden Richtungen zu perpetuieren. Ein allzu legeres Nebeneinanderstellen von offenbar ähnlichen Fazits aber lässt nicht nur weiter bestehende Unterschiede zwischen beiden Methoden verschwimmen, sondern mindert auch die begriffliche Schärfe, mit der sie an ihren Gegenstand, die Literatur, herantreten.

So findet sich die Verbindung „von allgemeinen Überlegungen mit Empirie“ (orig. s.o., S. 21) (mit diesem den Naturwissenschaften und den angewandten Sozialwissenschaften entlehnten Terminus ist hier offensichtlich die konkrete Arbeit am und mit dem Text gemeint) tatsächlich sowohl bei den Strukturalisten Mukařovský und Vodička, bei ihren Schülern Jankovič und Červenka wie auch bei den Hermeneutikern Gadamer, Jauß und Iser, denn sie zeichnet die Arbeitsweise eines jeden guten Literaturwissenschaftlers aus unabhängig von seiner theoretischen Position und seiner aus dieser abgeleiteten Methode.

Der betont praxisbezogene Blickwinkel, unter dem Verf. wegen der breitenwirksamen pädagogischen Aufgabe, die er der Interpretation zuschreibt, diese verschiedenen literaturwissenschaftlichen Richtungen betrachtet, engt seinen Horizont unnötig ein. Indem er nämlich allzu schnell zu dem Modus übergeht, in dem die verschiedenen Theorien den literarischen Text behandeln, blendet er gerade jene Punkte aus, mit denen sie ihm sehr wohl Antworten bieten könnten auf Fragen zur Praxis der Interpretation: Was kann, was soll, was darf eine Interpretation leisten? Denn wenn man wie die meisten neueren Theorien und wie auch Verf. selbst von einer potentiellen Offenheit eines jeden literarischen Kunstwerks ausgeht, sollte eine Interpretation, auch und gerade wenn sie sich an eine breitere Öffentlichkeit richtet, nicht eine scheinbar letztgültige Auslegung bieten, sondern vielmehr die Wahrnehmung für jene Momente am Text schärfen, in denen seine zu immer neuer Lektüre und Auslegung auffordernde Lebendigkeit begründet liegt. Dies können Momente sein, die sich erst in einer Detailanalyse erschließen. Und in einigen Fällen, etwa bei der Besprechung von Durychs Bloudění legt Verf. seinen Ausführungen auch solch präzise Betrachtungen der Lexik, Stilistik und Metaphorik zugrunde. Einen weiteren Schwerpunkt legt er zumeist auf die Erläuterung des zeitgenössischen kulturhistorischen Kontextes, womit er jener historischen Verankerung eines jeden Werkes Rechnung trägt, die vor allem hermeneutische Theorien betonen. Zu diesem Zweck referiert er häufig die Aufnahme des jeweiligen Werkes durch die zeitgenössische Kritik. In einigen Fällen wählt er den Weg, autobiographische Parallelen von Hauptfiguren zu denen des jeweiligen Autors aufzuzeigen. So verfolgt er etwa bei einer Gegenüberstellung von Witkacy und Klíma, wie sich der nihilistische Grundzug der Weltanschauung beider Autoren in ihren Werken spiegelt: Bei beiden finde sich eine „Sehnsucht nach absoluter Vorherrschaft der Individualität“ („touha po absolutní nadvládě individuality“, S. 52), das „Motiv der Langeweile“ („motiv nudy“, ebda.) sowie „ein Gefühl der Leere und der Nichtigkeit der Existenz im leeren Kosmos“ („pocit pustoty a nicoty existence v pustém vesmíru“, S. 53). Mit dem Verweis auf derartige autobiographische Parallelen wäre allerdings wohl vorsichtig umzugehen, selbst wenn man sich an ein breiteres Publikum wendet. Einerseits wird so zwar das Verständnis des behandelten Textes erleichtert, andererseits kann ihm jedoch gerade dadurch etwas von seiner nach wie vor beunruhigenden Wirkung genommen werden. Denn indem der Text sich in einen kulturellen Zusammenhang einordnen lässt, der der Vergangenheit angehört, wird womöglich seine Aktualisierung aus heutiger Perspektive abgeschnitten. Dies aber ist ein Punkt, den sowohl Strukturalisten wie Hermeneutiker für die lebendige Annäherung an einen Text einfordern.

Es ist ein Manko dieses Buches, dass es derartige Fragen, die direkt mit der Interpretationspraxis zusammenhängen, nicht expliziert, dass es in den Einzelstudien nicht auf die eingangs angestellten Überlegungen zu einem schlüssigen Konzept von Interpretation zurückgreift, um sie am praktischen Beispiel zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Solche Reflexionen mögen zwar durchaus im Hintergrund der hier abgedruckten Studien gestanden haben, sind dann aber offenbar einem falsch verstandenen populärwissenschaftlichen Anspruch zum Opfer gefallen. Dabei ist es ein durchaus ehrenwertes und anspruchsvolles Anliegen, die Interpretation auch und gerade in ihren breitenwirksamen Möglichkeiten auszuleuchten und stark zu machen. Unabhängig davon, ob man Verf.s zivilisationskritischen Ausgangspunkt teilt_3, ist die Förderung der Lesekultur sicherlich angebracht und von Literaturwissenschaftlern vorgebrachte Interpretationen mögen ein Mittel auf diesem Wege sein. Die Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts bieten dabei jedoch weitaus mehr fundierte Anregungen für die Praxis als Verf. zugestehen mag.

FUßNOTEN

_1
Die Habilitation ist demnach 1994 vonstatten gegangen, wir haben es also auch hier mit einer relativ langen Zeitspanne zwischen Entstehung und Publikation des Textes zu tun.

_2
Verf. nennt die Textstudien der Dekonstruktivisten Paul de Man und Jacques Derrida, die er namentlich erwähnt, Interpretationen, obwohl eine solche Bezeichnung dem Selbstverständnis dieser Theoretiker kaum angemessen sein dürfte. Schließlich ziehen sie die Kategorie des Sinns, dessen Erreichbarkeit jede Interpretation zumindest implizit voraussetzt, radikal in Zweifel. Ihre Praxis der Dekonstruktion zielt vielmehr darauf ab, jeweils die Momente in einem Text freizulegen, die seiner Vereinheitlichung auf ein einziges Sinnzentrum hin zuwiderlaufen.

_3
Verf. fasst jene Veränderungen in Bewusstsein und Verhalten, die er insbesondere von Action Film, Fernsehen, Video und Computer verursacht sieht, unter dem Stichwort eines bis zur Karikatur übersteigerten american way of life und spekuliert über die Ursprünge dieser Entwicklung in der Aufklärung und der französischen Revolution, der Renaissance oder dem spätmittelalterlichen Christentum. (S. 15) Die Suche nach den Ursachen einer einseitig als verhängnisvoll beurteilten Entwicklung, die die Annahme eines ursprünglichen, verlorenen Idealzustands impliziert, rückt diese Überlegungen in die Nähe der zivilisationskritischen Tradition neuzeitlichen europäischen Denkens.

LITERATUR

Jiří Holý: Možnosti interpretace. Česká, polská a slovenská literatura 20. století. Periplum, Olomouc 2002, 293 s.