Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet durch Wellen der Barockbegeisterung und Barockverdammung. Einmal wird die Kunst des Barock als deviante Verfallserscheinung perhorresziert, dann wieder als kulturkritisches und ästhetisches Verfahren betrachtet, das die Moderne präfiguriert. Wissenschaftsgeschichtlich kristallisieren sich zwei Stränge der Forschung heraus: Das Phänomen Barock wird entweder typologisch‑stilistisch als ein bestimmter Zugang zur Welt der Erscheinungen und ein konstantes Arsenal von Verfahren verstanden oder historisch als Begriff für eine Epoche. Diese Entwicklung setzt mit Heinrich Wölfflin 1915 und ist seitdem nicht abgebrochen. Unabhängig vom methodischen und disziplinären Zugriff wird und wurde die Bezeichnung „Barock“ selten neutral verwendet. Der Prager Literaturwissenschaftler Josef Vojvodík vertritt in seiner Studie mit dem Titel Povrch, skrytost, ambivalence. Manýrismus, baroko a (česká) avantgarda einen geradezu emphatisch zu nennenden Barockbegriff, der die kulturkritischen Aspekte von Barock zentral setzt und eine barocke Ästhetik entwickelt, die über 16. das Jahrhundert hinaus wirkt. Eine ähnliche Aufwertung lässt er auch dem Manierismus angedeihen. Dieser Begriffskomplex ist wiewohl mit dem des Barock eng verbunden nicht vollständig an dessen Konjunktur angeschlossen. Seit den 1950er Jahren haben sich Autoren wie der Schweizer Daseinsanalytiker und Psychiater Ludwig Binswanger und der Kulturhistoriker Gustav René Hockes um eine Rehabilitierung des verpönten Begriffs bemüht, ohne dass zu es einer so gänzlichen Umwertung wie im Fall des Barock kam. Vojvodík betrachtet den Manierismus im Sinne Gustav René Hockes als eine „Ausdrucksgebärde“,_1 deren Wert gerade in ihrer Überschreitung von Einzelsinnen und in ihrer Plurimedialität zu sehen ist. Barock und Manierismus werden in der vorliegenden Studie als Wegbereiter und Vorformen des „neuen Sehens“ aufgefasst, das zum Kennzeichen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts geworden ist.
In elf Kapiteln setzt sich Vojvodík mit so unterschiedlichem Material wie Gedichten von František Halas, Ang Lees Film Brokeback Mountain oder Ludwig Mies van der Rohes Deutschen Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona 1928/29 auseinander. Die ersten drei Kapitel setzen den konzeptuellen Grundton, indem sie die zentralen Begriffe „Barock“, Manierismus“ und „Avantgarde“ theoretisch herleiten und konturieren, während die folgenden sieben Kapitel am Beispiel von ausgewählten Texten und Bildern bzw. Bauwerken Konzepte wie Rahmung, Oberfläche und Subjektivität von Wahrnehmungen zentral stellen. Leitend sind dabei durch alle Kapitel hindurch die Fragen: Was macht Barock und Manierismus so interessant für die Avantgarde? Wie verläuft der Prozess der „Bespiegelung“_2 von Manierismus und Avantgarde? Welche Ansätze und Verfahren teilen barocke und avantgardistische Kunstauffassungen? Besonders wichtig ist ihm, dass Barock wie Avantgarde auf ein emotional aufgeladenes Kunsterleben ausgerichtet sind, dass sie „machines à emouvoir“ (S. 13) sind, wie er im ersten, einleitenden Kapitel schreibt. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These, dass Manierismus und Barock eine Emanzipation der Kunst von den Vorgaben der Natur, vom „äußeren Modell“ bedeuteten (S. 19). Eine Innovation, die moderne Kunstauffassungen erst möglich machte (S. 15). Damit ist zudem ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit benannt: die konsequente Einbeziehung wahrnehmungspsychologischer und phänomenologischer Ansätze in seine Überlegungen.
Das zweite und das dritte Kapitel sind Barock und Manierismus im System der Kunstrichtungen gewidmet. Zunächst entwirft Vojvodík Manierismus und Barock gerade nicht als „Komplementärerscheinung zur Klassik aller Epochen“,_3 stattdessen stellt er eine wesentlich subtilere Dynamik vor, die auf dem Begriff des Kanonischen aufbaut. Er erläutert dies am Beispiel einer spezifisch tschechischen Konstellation, die sich durch die Koinzidenz der großen Barockausstellung von 1938 und eines Umschlagentwurfs von Jindřich Štyrský und Toyen für Zdeněk Kalistas Barockbuch ergibt (S. 45–47): Beide Barock und der Surrealismus Štyrský’scher Prägung sind „anti‑kanonisch“, indem sie kanonisierte Wahrnehmungs‑ und Darstellungsperspektiven aufbrechen und seien es die der selbst schon ikonoklastischen Avantgarde (S. 73). Die Barockrezeption der beiden Surrealisten wird so zum „dekanonisierenden“ Akt. Im dritten Kapitel wendet er sich noch einmal der immer noch ungeklärten Frage zu, ob der Manierismus ein Stil oder eine Epochenbezeichnung ist (p. 60). Plausibel ist sein in Anlehnung an John Shearman vorgetragener Vorschlag, den Manierismus vor allem auch als „Lebensstil“ zu betrachten (S. 63), der in seinen ästhetischen Verfahren deutliche Parallelen zu jenen der Avantgarde aufweist, etwa in der Bedeutung, die Konstruktion und Montage zugewiesen werden. Besonders wichtig, gerade auch im Hinblick auf die folgenden Textanalysen ist der Befund des Autors, dass Barock und Manierismus durch die ihnen innewohnenden derealisierenden Strategien Wegbereiter der Avantgarden sind (S. 63). Weitere Parallelen zwischen Barock und Avantgarde, die in diesem Kapitel diskutiert werden, sind die Subjektivierung der Wahrnehmung, die durch einen Blick auf die phänomenologische Theoriebildung auch eine epistemologische Perspektive gewinnt und die Begriffe Oberfläche und Faktur sowie ein emanzipatorisches Verhältnis zur Zeit. Kritisch ließe sich an dieser Stelle allenfalls anmerken, dass sich in Vojvodíks Darstellung die typologischen Eigenheiten des Manierismus vor allem in seiner Konkurrenz zum Barock stellenweise auflösen, so dass die Grenze zwischen Barock und Manierismus undeutlich wird.
Die anschließenden fünf Kapitel (4–8) sind weniger chronologisch geordnet, auch wenn der Autor sich vor allem im Zeitraum zwischen den 1920er und 1950er Jahren bewegt, als vielmehr thematisch. Jeder einzelne Abschnitt ist einem wichtigen Verfahren oder Thema des Barock oder Manierismus gewidmet, das auch in der Avantgarde zentral gesetzt wird. In Vojvodíks Auffassung sind nicht nur Texte und Bilder geeignet, barocke Ideen in der Moderne zu transportieren, sondern auch Bauwerke oder Filme. Dabei erweitert er ganz nebenbei den Kanon der klassischen Avantgarde und moderner Theoriebildung um Bildkünstler wie Zdeněk Rykr oder den Psychiater Svetozar Nevole, denen von der Forschung bisher her nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Das vierte sehr umfangreiche Kapitel setzt sich unter der Überschrift „Le monde à deux étages: fenomén dvojího světa mezi hmotou a beztížím transparencí a opakností, povrchem a hloubkou“ (S. 94–185) mit der Bedeutung, die erfahrene und erlebte, aber auch vorgestellte und imaginäre Räume in Barock und Avantgarde haben, auseinander. Zunächst werden Raumkonzepte in Barock‑ und Avantgardearchitektur unter dem Vorzeichen der Opposition von Materialität und Immaterialität diskutiert. Vojvodík zeigt sehr plausibel, dass der barocke Raum „dynamisch“ ist und beständig neue Räume generiert (S. 96), dass seine Ästhetik, ungeachtet der Differenzen in der Erscheinungsform, konzeptuelle Ähnlichkeiten zu der eines Ludwig Mies van der Rohe oder Walter Gropius aufweist. Die Komplexität avantgardistischer (wie barocker) Raumkonzepte zeigt sich auch in der subtilen Lektüre von Bildern Jindřich Štyrskýs, die dem Autor als Beispiel für die Entmaterialisierung des Stofflichen und „Purifikation“ des Raums dienen (S. 121, 122). An dieser Stelle greift Vojvodík auch seinen eingangs formulierten Grundgedanken auf, die Ästhetik der Avantgarde ziele auf eine Verstörung und Emotionalisierung des Betrachters ab. Das Prinzip der Dematerialisierung und der Auseinandersetzung mit Konzepten der Leere und des Nichts leitet auch die Texte von „neobarocken“ Dichtern wie Richard Weiner, František Halas oder Vladimír Holan, wie Vojvodík in überzeugenden Textanalysen vorführt. Das fünfte Kapitel greift barockisierende Motive in den Bildern Zdeněk Rykrs auf, wie etwa die Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit und Tod.
Mit dem Begriff der „Rahmung“ führt das sechste Kapitel ein neues Konzept in die Diskussion ein. Die meisten Artefakte präsentieren sich nicht einfach, sondern gelangen in einem bestimmten Kontext zur Ansicht, der sie gleichsam rahmt. Mechanismen der Rahmung korrelieren Gesten des Zeigens und Hinweisens. Auch hier sind es wieder Arbeiten von Jindřich Štyrský, namentlich sein Umschlagentwurf für Zdeněk Kalistas Buch České baroko, der auf einem leeren Barockrahmen basiert, die Vojvodík mit dem bereits angesprochenen Motiv der Leere und des Ikonoklasmus engführt. Das siebte Kapitel greift mit Karel Teiges „vnitřní model“ den bereits in der Einleitung angesprochenen Gedanken einer von den Gesetzen der äußeren Wirklichkeit befreiten Wahrnehmung auf, der auch die Überlegungen des achten Kapitels, das den Arbeiten von Svetozar Nevole gewidmet ist, strukturiert. Die Parallelisierung von Manierismus und Avantgarde ist, wie Vojvodík zeigt, in den theoretischen und kunstanalytischen Arbeiten Teiges selbst angelegt. Die Orientierung des Künstlers am „inneren Modell“ gleicht einer Epiphanie und ist häufig von einer starken Emotionalisierung des ästhetischen Empfindens begleitet (S. 227–228). Dieser Weg in die Sphäre der Geistigkeit ist es, der die Avantgarde für die Ästhetik des Barock öffnet. Fragen einer subjektiv und emotional modellierten Wahrnehmung gilt auch das Interesse von Nevole, der sich diesem Phänomen durch verschiedene Versuchsreihen in den 1940er, also etwa zeitgleich mit Teige, angenähert hat und es so psychologisch fundiert.
Das zehnte und vorletzte Kapitel (S. 286–339) ist der Auseinandersetzung mit Ang Lees Film Brokeback Mountain gewidmet und stellt in vielerlei Hinsicht das pièce de résistance des Buches dar. Die Wahl dieses Films unter den Vorzeichen Barock und Avantgarde mag zunächst erstaunen, sind es doch sonst vor allem Filme wie Derek Jarmans Caravaggio oder Peter Greenaways Prospero’s Books oder The Draughtsman’s Contract, die in diesem Kontext Erwähnung finden und viel vordergründiger mit dem Barocken operieren. Die profunden und subtilen Analysen des Kapitels zeigen jedoch, dass Ang Lees Film über die schwierige Liebe zweier Männer im Mittleren Westen Amerikas im Kern von barocken Motiven und Verfahren durchzogen ist. Was der Film in Szene setzt, ist jene Emotionalisierung und Reinigung des Bildes von den Residuen der materiellen Welt (S. 287), die bereits im vierten Kapitel am Beispiel Štyrskýs vorgeführt wurden. Anhand von Schlüsselbegriffen wie Datum und Wiederholung, Schweigen, Opfer und Versöhnung illustriert er den Rückzug ins Innerliche, der insbesondere die Figur des Ennis del Mar kennzeichnet, als dem barocken Welterleben ähnlich, wenngleich die äußeren Auslöser für diese gänzlich anders gelagert sind. Unter der Überschrift „Otisk a stopa“ analysiert er eine Schlüsselszene des Films, die das Motiv des toten Geliebten über die Aneignung seines Hemdes greifbar macht (S. 297–303). Wie anregend und inspirierend Vojvodíks inspirierte und fundierte Lektüren sind, zeigt sich auch daran, dass sie unwillkürlich dazu anregen, weitere barocke Motive in Ang Lees Film zu finden. So könnte man seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung, die das Hemd des Toten im Film trägt, noch um einen weiteren Aspekt ergänzen, wenn man das Hemd als „leere Form“ interpretiert, die wie der Schädel oder das leere Schneckenhaus nicht nur an das lebendige Wesen erinnert, das sie einst mit Leben füllte, sondern auch an den Tod.
In der Zusammenschau der Einzelinterpretationen erschließt sich neben der guten Lesbarkeit eine weitere Leistung von Vojvodíks Studie: Seine reflektierte und problembewusste Auseinandersetzung mit barocken Verfahren in Texten, Filmen und Bildern der Avantgarde lässt diese wirklich konkret werden und behauptet sie nicht nur. Hier zeigt sich die außerordentliche Dichte und Stringenz der Argumentation, die bisher Unverbundenes plausibel zusammenführt. Vojvodíks Buch diskutiert nicht nur das Verhältnis von Barock/Manierismus und Avantgarde, es stellt darüber hinaus einen Beitrag zur Klärung der notorisch vieldeutigen und ambivalenten Begriffe Barock und Avantgarde dar. Sein Vorgehen gewinnt seine besondere Kontur und Schärfe dadurch, dass er literatur‑ und kunsthistorische Phänomene gleichermaßen reflektiert und damit die Spaltung in Literatur‑ und Kunstgeschichte aufhebt, die das 20. Jahrhundert kennzeichnet. Bemerkenswert ist, dass der Autor bei seiner Diskussion dieser mobilen Begriffe immer den historischen Index der zitierten Theorien und Manifeste im Blick behält und die Gründe für das Interesse, das ein Psychiater wie Ludwig Binswanger oder ein Künstler wie Jindřich Štyrský für Barock und Manierismus entwickelten, mitbedenkt. Er zeigt sich damit als würdiger Nachfolger Benjamins, der in seinem Trauerspielbuch darauf hingewiesen hat, wie sehr die Barockforschung daran krankt, dass sie sich ihrem Gegenstand stets interessegeleitet zuwendet ohne diese Interessen explizit zu machen und zu hinterfragen._4 Indem Vojvodík die Linie einer historisch und kritisch informierten Lektüre von Kunst im weitesten Sinne verfolgt und sich in eine Denklinie stellt, die von Max Dvořák bis zu Gilles Deleuze reicht, betreibt er Kultur‑ und Geistesgeschichte im besten Sinne. Sein Buch ist deshalb Kunsthistorikern und Literaturwissenschaftlern, aber auch allen, die sich für Fragen des Ästhetischen im Allgemeinen interessieren, wärmstens zu empfehlen.
Ad: Josef Vojvodík: Povrch, skrytost, ambivalence. Manýrismus, baroko a (česká) avantgarda. Argo, Praha 2008. 400 pp, 35 Abbildungen.
POZNÁMKY
_1
Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Reinbek b. Hamburg 1959, S. 18.
_2
Horst Bredekamp: Der Manierismus. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfindung. In: Werner Braungart (Hg.): Manier und Manierismus. Taschenbuch, Tübingen 2000, S. 109–130, hier 117.
_3
Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Francke, Bern 1948/1984, S. 277.
_4
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften I/1. Hrsg. von Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser – Hermann, Frankfurt a. M. 1928, S. 203–430, hier 235.