Egon Bondy redivivus?

Der vorliegende Band ist die überarbeitete Fassung einer 2007 in Ostrau approbierten Dissertation, erweitert um einige Studien, die vorab in verschiedenen Zeitschriften publiziert wurden. Der Autor bietet eine übersichtliche Gliederung: der Inhaltsangabe und einer kurzen Einleitung, in der er seine Ziele und Methoden definiert, folgen zehn im Grunde chronologisch geordnete Hauptkapitel von unterschiedlicher Länge. Sie behandeln entweder bestimmte Schaffensperioden beziehungsweise ‑ typen (Pod erbem surrealismu, Básnická mystika a filozofie, Básnické deníky) oder einzelne Gedichtsammlungen (Totální realismus a trapná poesie, Pražský život, Legendy, Deník dívky, která hledá Egona Bondyho, To jsou zbytečné verše), wobei sich die ersten fünf Kapitel auf die späten vierziger und fünfziger Jahre konzentrieren, die nächsten drei auf die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die letzten zwei Kapitel beschäftigen sich mit dem übergreifenden Thema Intertextualität (Intertextualita) und mit Honza Krejcarová (Legenda Honza Krejcarová). Der wissenschaftliche Text schließt mit einem Resümee ab.

Im Anhang, der rund ein Drittel des Bandes ausmacht, befinden sich eine editorische Anmerkung, eine Auflistung der Quellen und der Sekundärliteratur, eine englischsprachige Zusammenfassung, ein Namensregister und eine Bildbeilage (15 Fotos, die Bondy – allein oder mit Freunden – in den Jahren 1949–1989 zeigen, sowie die Kopie eines Verzeichnisses von Půlnoc‑Titeln aus dem Jahre 1951). Zuletzt sind in einer Textbeilage drei bisher unveröffentlichte, von Martin Machovec in gewohnter Sorgfalt redigierte Gedichtsammlungen von Egon Bondy abgedruckt: die zwei ältesten Sammlungen, Fragmenty prvotin (1947/48) und Churavý výtvor (1951), sowie ein Band aus den siebziger Jahren, Druhá sbírečka (Mí přátelé!) (1975), die in der Gesamtausgabe von Bondys Lyrik nicht enthalten und einem breiteren Publikum somit erstmals zugänglich sind. Zu allen drei Titeln findet man auch einen kurzen Kommentar von Machovec. Der Bucheinband zeigt das Bild des jungen, bärtigen Egon Bondy beim Baden, fotographiert von Emila Medková. Die biographischen Angaben zum Autor stellen Mainx als Wissenschaftler und Pädagogen in Ostrava beziehungsweise Hradec Králové, als Lehrbuchautor sowie als Mitglied von Redaktionsteams zur Literatur Nordmährens und Schlesiens (und nicht zuletzt auch als Gelegenheitsdichter) vor.

Egon Bondys Dichtung war bereits Objekt einiger wissenschaftlicher Studien (Martin Machovec, Zdeněk Troup, Jaromír Typlt) und Buchpublikationen (Martin Pilař, Gertraude Zand); bisher hat sich aber keine Monographie dezidiert mit seinem lyrischen Gesamtwerk auseinandergesetzt: Pilař beschäftigte sich mit Bondy vor allem im Zusammenhang mit dem Phänomen des tschechischen Underground, Zand im historischen Kontext der inoffiziellen Literatur der fünfziger Jahre. Mainx versucht erstmals eine umfassende Analyse und Interpretation des Gesamtwerks – fokussiert allerdings wieder auf die Zeit des Stalinismus (fünfziger Jahre) und der Normalisierung (siebziger Jahre).

Mainx ist explizit darum bemüht, sich weder von Bondys Eigeninterpretation noch vom Mythos Egon Bondy einholen zu lassen, den Zeitgenossen und Anhänger des Dichters geschaffen haben. Der Autor ist 1974 geboren, also der Underground‑Szene der siebziger und achtziger Jahre nicht persönlich verhaftet; auch daß sein Buch erst nach Bondys Tod (im April 2007) erschien, kann als symptomatisch gelten. Mainx versucht, die Selbststilisierung des Dichters und die Mythenbildung um Bondy auszuschalten. Allerdings liegt der Grundstein für diese Mythenbildung in der Beschaffenheit der Texte selbst, und es wäre vielleicht gewinnbringender, die Ursachen für den Mythos zu durchleuchten, als das Ergebnis zu ignorieren: die Texte selbst sind es, die eine mythische Dichterfigur entwerfen, die Texte selbst spielen mit den sozialistischen Mythen und schaffen eine eigene (Gegen‑ )Mythologie. Da der Mythos Egon Bondy nicht erst ex post geschaffen wurde, sondern dem Werk inhärent ist, führt seine Ausblendung notwendigerweise zu einer Reduktion – und wird zuletzt auch dem Titel des vorliegenden Bandes nicht gerecht.

Im Vordergrund von Mainx’ wissenschaftlicher Arbeit steht die Analyse und Interpretation des literarischen Textkorpus, mit der er der stereotypen Bewertung von Bondys Dichtung – z. B. in den Rezensionen zum Erscheinen des lyrischen Gesamtwerks in den neunziger Jahren – als bloßes Zeitdokument und Fortsetzung der Poetik Jiří Kolářs entgegenwirken möchte (vgl. Vorwort S. 11–12). Als Bondys Beitrag zur tschechischen Literatur im Vergleich zu seinen Vorläufern und Zeitgenossen präsentiert Mainx dann allerdings gerade wieder die Poetik des Totalen Realismus, die Authentizität des Schaffens sowie den Tagebuch‑ und Aufzeichnungscharakter seiner Dichtung – also die Parallelen zur Skupina 42 (vgl. Resümee S. 195).

Mainx zieht einige neue authentische Quellen heran (z. B. eine Korrespondenz zwischen Zbyněk Havlíček und Eva Prusíková, vgl. S. 86). Im Detail rückt er einige ältere Annahmen zurecht (z. B. Bondy habe lange Gedichte nach der grammatikalisch‑ automatischen Methode geschrieben, vgl. S. 25–26, das Manifest „Poznámky k situaci umění 1948“ sei die definitive Abkehr vom Surrealismus, vgl. S. 28, Hrabal habe erst nach seiner Bekanntschaft mit Egon Bondy im Sinne eines Totalen Realismus geschrieben, vgl. S. 60–62). Im Großen und Ganzen orientiert er sich an der vorhandenen Sekundärliteratur, die ihm ausgezeichnet bekannt ist, und übernimmt daraus Vieles – von der Schwerpunktsetzung in den fünfziger und siebziger Jahren bis hin zum fast schon obligatorischen Kapitel über Honza Krejcarová, die enormen Einfluß auf die Persönlichkeit und Poetik des jungen Bondy ausgeübt hatte.

Die Stärke von Mainx liegt zweifellos in der soliden literaturwissenschaftlichen Analyse und Interpretation der Gedichte. Sein Hauptineresse gilt den intertextuellen Beziehungen, also der Suche nach „stilistischen, motivischen und thematischen Zusammenhängen“ (Martin Machovec, Klappentext). Im „Deník dívky, která hledá Egona Bondyho“ etwa findet Mainx Parallelen bis hin zu Karel Jaromír Erben, zu Svatopluk Čech und den Ruchovci bzw. Lumírovci, zu Vítězslav Nezval und Ladislav Klíma. Querverbindungen entdeckt er auf diachroner (von Karel Hynek Mácha bis T. S. Eliot) wie synchroner Ebene (z. B. Bondys parodistische Bezugnahme auf Konstantin Biebls letzte Gedichtsammlung „Bez obav“, die Mainx ihrerseits als Parodie qualifiziert). Ein besonders geeignetes Beispiel für die Intertextualität von Bondys Schaffen wäre übrigens die bisher nicht rezipierte, weil erst hier veröffentlichte Druhá sbírečka, die Mainx in seinen Studien allerdings nur kurz streift. Im Kreise der „inoffiziellen“ Dichter bedeutet ihm Intertextualität eine Art von Gemeinschaft, ein gemeinsames Spiel, Ironie und Interaktion, nämlich die Interaktion zwischen Text und Gesellschaft wie zwischen Text und Geschichte. Den Prätext bilden dabei zwei Textsorten: zum einen die kanonisierten literarischen Texte, zum anderen zeitgenössische Texte aus Bondys Lebenswelt – aus der offiziellen Produktion ebenso wie aus der inoffiziellen.

Methodisch orientiert sich Mainx einerseits am tschechischen Strukturalismus und an der Versologie von Miroslav Červenka, andererseits am semiotischen Zugang von Wissenschaftlern wie Vladimír Macura, Sylvie Richterová, Jurij M. Lotman oder Boris A. Uspenskij. Das semiotische Interesse wird schon durch die starke Hervorhebung intertextueller Fragen (bis hin zu einem eigenen Kapitel) offensichtlich, schlägt sich de facto allerdings weniger nieder als die strukturalistische Schule. Zwar ist im konkreten Fall gerade die gründliche – stellenweise etwas schülerhafte – Analyse und Interpretation ein wertvoller Forschungsbeitrag, doch auch ein wesentlich radikalerer (z. B. dekonstruktivistischer) oder im Ansatz innovativerer Zugang wäre durchaus gewinnbringend gewesen, etwa eine Aufschlüsselung von Bondys Dichtung nach den im Titel verwendeten Begriffen „mýtus“, „svědectví“ und „hra“ anstatt der chronologischen Anordnung von Werkblöcken. Ein wenig fehlt es der Arbeit an einer grundlegenden These, an einem großen Bogen, der den einzelnen Kapiteln inneren Zusammenhalt verleiht. Dieses Manko mag im Charakter von Bondys Werk begründet liegen, den der Titel des vorliegenden Bandes widerspiegelt: mit „Mythos“, „Zeugenschaft“ und „Spiel“ werden Begriffe kombiniert, die eigentlich unvereinbar sind (Erdachtes und Reales, Ernst und Spiel etc.). Die Qualität von Bondys Dichtung ist zugleich ihre Problematik, nämlich daß sie heterogen, in sich selbst widersprüchlich und schwer faßbar ist.

Im Resümee besinnt sich Mainx auf die Vorgabe des Buchtitels, wenn er noch einmal die Haupttendenzen in Bondys lyrischem Werk festmacht: zum einen das Spiel mit dem Text durch thematischen und formalen Eklektizismus, durch Zitate, Allusionen, Pastiches, Paraphrasen und Travestien; zum anderen die prophetisch‑messianische Selbststilisierung als mythischer Schöpfer und nationaler Dichter oder aber als ohnmächtiger Outsider, Eremit und Bohèmien am Rande der Gesellschaft. Zuletzt wird auch der Totale Realismus noch einmal als literaturgeschichtlich wichtigster Beitrag Bondys hervorgehoben. Im letzten Satz seines Schlußwortes schreibt Mainx: „Podle Bondyho se umělecká tvorba stává základní (ne‑ li jedinou) možností, jak člověk může vyjádřit svou nespokojenost se stavem světa, v němž žije“ (S. 197). Doch gerade der Aspekt der Verbindung zwischen Werk und Leben kommt meiner Meinung nach im vorliegenden Band ein wenig zu kurz: Bondys Lyrik wird hier viel mehr im Kontext der literaturgeschichtlichen Entwicklungsdynamik erfaßt, als vor dem historischen Hintergrund der tschechischen Gesellschaft nach 1945; selbstverständlich ist auch ein solcher Zugang legitim.

Ad: Oskar Mainx: Poezie jako mýtus, svědectví a hra. Kapitoly z básnické poetiky Egona Bondyho. Protimluv, Ostrava 2007. 296 stran.