Ein literarischer Almanach aus den fünfziger Jahren

In den ersten Jahren nach 1989 ist eine große Zahl von älteren Texten erschienen, die bis dahin nur in Eigen- oder Exilverlagen verbreitet werden konnten. Seit 2005 liegt auch der Almanach Život je všude in einer öffentlich zugänglichen Ausgabe vor; er war 1956 von Jiří Kolář und Josef Hiršal als Typoskript für den Eigengebrauch zusammengestellt und 1990 in nur wenigen Exemplaren als Faksimile vervielfältigt worden. Daß der Band vergleichsweise spät auf den Buchmarkt gekommen ist, läßt sich zunächst auf zwei Ursachen zurückführen: einerseits erreichte er – wie viele andere Produktionen der fünfziger Jahre – im inoffiziellen Kulturbetrieb nicht annähernd den Bekanntheitsgrad jener Titel, die seit den siebziger Jahren im Samizdat oder im Exil vertrieben und nach der politischen Wende sofort verlegt wurden; andererseits sind einige Texte dieses Sammelbandes inzwischenohnehin in anderen Publikationen zugänglich gemacht worden.

Ein weiterer Grund für die relativ späte Rezeption mag in der Inhomogenität des Bandes liegen, der – in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt – Texte von Václav Havel, Milan Hendrych, Josef Hiršal, Bohumil Hrabal, Emil Juliš, Jiří Kolář, Jiří Paukert (unter dem Pseudonym Jiří Kuběna, das Paukert auch weiter verwendete), Josef Škvorecký (unter dem Pseudonym Josef Pepýt) und Jan Zábrana beinhaltet. Es handelt sich um Texte verschiedener Gattungen in uneinheitlicher Qualität: während die Gedichte von Zábrana poetisch dicht gearbeitet sind, stellen Havels Verse echte Juvenilien dar. Die Studie von Kuběna über den Maler Karel Souček erscheint wenig ausgegoren, wohingegen die erzählerische Begabung Hrabals oder das analytische Talent Havels bereits deutlich zur Geltung kommen. Die Gemeinsamkeit der Texte besteht auch nicht in einer altersmäßigen Zusammen-gehörigkeit ihrer zwischen 1914 und 1936 geborenen Autoren oder etwa in einer einheitlichen programmatischen Linie; das unausgesprochene Zentrum des Bandes ist vielmehr die Person des Herausgebers Jiří Kolář, der eine Leitfigur nicht nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern weit über das Jahr 1948 hinaus war.

Die Rolle Kolářs in der tschechischen Nachkriegsliteratur war in künstlerischer und vor allem in persönlicher Hinsicht überaus wichtig. Kolář gehörte zu den prominentesten Widersachern und Opfern des kommunistischen Regimes, wurde 1950 aus seiner Anstellung in der Genossenschaft Dílo entlassen und verbüßte 1952/53 für das Manuskript von Prométheova játra eine neunmonatige Haftstrafe. Andererseits belegen die Aktenstudien von Michal Bauer, daß Kolář auch Mitglied des Svaz československých spisovatelů war und noch kurz vor seiner Verhaftung im Dezember 1952 an dessen Sitzung teilnahm; bald nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis im Oktober 1953 wurde er wieder in den Svaz aufgenommen._1 Dennoch galt und gilt Kolář als moralische und poetische Instanz, wie man etwa bei Emil Juliš nachlesen kann: „Setkal jsem se s básníkem od počátku přátelským, básníkem s vyhraněnými názory a poetikou, básníkem posedlým odpovědností k sobě i k poezii, básníkem až nesmlouvavě požadované morálky, étosu života a díla, básníkem originálním, podpalovačným, s monolitní vůlí zmocnit se a přesvědčit. […] Bylo to pro mě rozhodující setkání – od té doby jsem chápal poezii opravdově, nahlédl do jejího srdce i mozku –, a to jsem ještě netušil, že to hlavní je nespočinutí, neustálost cesty, hledání (ale i nacházení); sám řekl »Něco s tím udělat«, »Někam to odtáhnout«.“_2

Unbestritten ist Kolářs Bedeutung als zentrale Figur einer von offiziellen Vorgaben unabhängigen Literatur- und Kunstszene. Jiří Kolář versorgte sein Umfeld nicht nur mit wichtigen Informationen aus aller Welt, sondern gab auch konkrete Impulse: Josef Hiršal legte er beispielsweise die Beschäftigung mit Christian Morgenstern nahe,_3 Bohumil Hrabal machte er mit dem Wort „pábit“ bekannt_4 und Emil Juliš riet er, im Rahmen der Aktion „70 000 z administrativy do výroby“ dahin zu gehen, „kde bude aspoň jedna fabrika a dvě rasy“, woraufhin sich Juliš für Most entschied._5 In den fünfziger Jahren hielt Jiří Kolář in seiner Wohnung Seminare, in deren Verlauf er strenge Kritik an vorgelegten oder vorgelesenen Texten übte, für die ihn Hrabal in autobiographischen Texten als „obrýlený klovající orel“_6 bezeichnet. Kolář fungierte für Hrabal als Richter,_7 Lehrer_8 und maßgeblicher erster Hörer: „[…] já jsem od začátku svého psaní měl jedinou oporu v tom, že mi nejdřív Marysko a pak Egon Bondy a potom Jiří Kolář řekli, že to, co jsem napsal, že je dobré. Bez těchto lidí bych přestal psát […].“_9 Der Mitherausgeber von Život je všude, Josef Hiršal, tritt übrigens in Hrabals autobiographischen Texten, namentlich in der Trilogie Svatby v domě, in einer nebengeordneten Rolle als Kolářs Adlatus auf.

Život je všude entstand bereits in der Zeit des beginnenden Tauwetters, doch selbst in den ersten stalinistischen Jahren hatte es ein literarisches Leben abseits der offiziellen Literatur gegeben. Als wichtigste Dokumente sind neben den Heften der Surrealistická skupina, Znamení zvěrokruhu (je ein Monatsheft von Jänner bis Oktober 1951) und Objekt I–V (zwischen 1953 und 1962), dem surrealistischen Band Židovská jména, den Egon Bondy und Honza Krejcarová 1949 zusammengestellt hatten, sowie internen Textsammlungen innerhalb anderer surrealistischer Gruppen (wie zum Beispiel der Záběhlická surrealistická skupina) vor allem die Produktion der Edice Explosionalismus von Vladimír Boudník und der Edice Půlnoc von Egon Bondy und Ivo Vodseďálek zu nennen. Sie alle haben eine mehr oder weniger explizite programmatische Linie, während Život je všude den Charakter eines wirklichen Almanachs trägt: einer Sammlung von Textproben, welche die literarischen Leistungen eines bestimmten Zeitabschnitts zusammenfassen. Insofern ist der Band auch ein Konkurrenzprodukt zu den seit 1953 offiziell herausgegebenen Básnické almanachy, die der lahmenden offiziellen lyrischen Produktion auf die Beine helfen sollten (und in denen sogar Jiří Kolář mit zwei Titeln vertreten war_10). Übrigens versuchte Kolář Mitte der fünzfiger Jahre auch als Redakteur des Spolek českých bibliofilů, manche der in Život je všude versammelten Autoren durchzusetzen – bis auf eine Ausnahme, Bohumil Hrabals Hovory lidí, allerdings ohne Erfolg._11

Dem Almanach war eine von Václav Havel moderierte Lesung in der Umělecká beseda in Prag und eine Lesung im Brünner Dům umění vorausgegangen. Emil Juliš berichtet, das gesamte Lesungs- und Sammelband-Projekt sei als Versuch Jiří Kolářs angesehen worden, die Skupina 42 zu erneuern._12 Diesem Urteil wird man sich schon im Hinblick auf Kolářs Persönlichkeit schwerlich anschließen können, die eher vorwärts strebte als zurück. Offensichtlich verlangten aber die fünfziger Jahre – und das bestätigt auch der vorliegende Band – in der Tat nach einer authentischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit: die Hinwendung zum Alltag abseits des öffentlichen Pathos und das Bedürfnis nach einem alternativen Realismus wurden durch die politischen Umstände aktualisiert; viele Künstler verabschiedeten sich erst in dieser Zeit endgültig vom Surrealismus. Der neue Realismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen kann aber nicht unmittelbar als Fortsetzung der Poetik der Skupina 42 betrachtet werden, auch war bei den Autoren selbst oft keinerlei Bewußtsein für einen solchen Zusammenhang vorhanden –weder im Umfeld der Edice Půlnoc, dessen Totaler Realismus sich von Kolářs moralischer Poetik durch einen egozentrischen Subjektivismus und eine radikale Depoetisierung unterscheidet, noch etwa später bei den Dichtern um die Zeitschrift Květen, die ja oft als Epigonen der Skupina 42 bezeichnet werden. Die Rolle von Jiří Kolář sollte man also in diesem Zusammenhang nicht überschätzen._13

Die primäre Rezeption von Život je všude ist kaum rekonstruierbar, mit Sicherheit aber fand der Band nur wenige Leser. Unter dem mangelnden feed-back litten die nicht offiziell publizierenden Autoren erheblich – hierzu sei eine Passage von B. Hrabal zitiert: „Dílo má vyjít hned po tom, kdy autor myslí, že je hotovo. Pak může nastat jiskření a propojení s dobou. […] Lituji […], že Jarmilka nemohla vyjít tak a ten čas, kdy byla napsána. V roce 1952. Cinéma verité v ní bylo. Tenkrát byla ta Jarmila opravdu zraňující. To z ní dost vyprchalo.“_14 Der heutige Leser ist daher angehalten, den historischen Kontext mitzudenken: relevant werden in diesem Sinne Fragen nach dem Verhältnis dieser Texte zu anderen Werken der fünfziger Jahre, Fragen nach ursprünglichen Textgestalten, die von Publikumsgeschmack und Literaturbetrieb noch weitgehend unbeeinflußt sind, oder Fragen nach der poetischen Entwicklung der Autoren. Der Band hält diesbezüglich auch einige Überraschungen bereit, zum Beispiel die Gedichte von Václav Havel, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Egon Bondys total realistischen Gedichten haben, oder einen Ausschnitt aus Josef Škvoreckýs Zbabělci in der ersten Fassung.

Život je všude besitzt für die Gegenwart in erster Linie dokumentarischen Wert, obwohl gerade in der aktuellen Buchform manche visuellen und haptischen Qualitäten des Originals, die auf die außerordentlichen Produktionsbedingungen hinweisen, nicht enthalten sind: drei verschiedene Schreibmaschinentypen, eine inkonsequente Paginierung, viele Tipp- und andere Fehler, die Qualität des Papiers, die Bindung (einzelne, gelochte und zusammengebundene Blätter) etc. In dieser Hinsicht bleibt das Original unerreichbar und das Faksimile von 1990 wesentlich aussagekräftiger als die nunmehr vorliegende offizielle Ausgabe. Diese bietet dafür ein umfang- und kenntnisreiches Nachwort von Michael Špirit, der nach einer kurzen allgemeinen Einführung die Autoren im einzelnen bespricht sowie einige weitere Texte vorstellt und zum Vergleich heranzieht, die im Sammelband nicht enthalten sind – zum Beispiel ein Tagebuch von Jan Rychlík. Darüber hinaus bringt Špirit viele interessante Details aus der offiziellen und inoffiziellen Literaturszene beziehungsweise über das Verhältnis der beiden Sphären zueinander, die sich im Laufe der fünfziger Jahre ein wenig zu verflechten begannen.

Der Sammelband Život je všude differenziert das Bild von der inoffiziellen Literatur der fünfziger Jahre,_15 die zwar lange recht unbekannt, aber offensichtlich für die weitere Entwicklung der tschechischen Literatur grundlegend war, weiter aus. Die hier präsentierten Texte bringen neue poetische Ansätze, sprengen aber die Grenzen des herkömmlichen Literaturbegriffs nicht radikal; sie stellen innerhalb gängiger Formen abgeschlossene Gebilde dar, während viele andere, nicht publizierte Texte aus den fünfziger Jahren fragmentarisch geblieben sind. Die meisten Autoren des Sammelbandes haben sich wenige Jahre später etabliert und gelten heute als bedeutende tschechische Schriftsteller – im Klappentext werden sie vielleicht ein wenig übertreibend kollektiv als „nejsilnější autoři druhé poloviny dvacátého století“ bezeichnet. Zweifellos handelt es sich um einige – wie ebenfalls imKlappentext zu lesen – „mimořádně silné texty“. Život je všude dokumentiert aber nicht nur wichtige Texte und Autoren, sondern zeugt von der grundsätzlichen Möglichkeit, auch unter restriktiven Bedingungen eine vita activa zu leben. In diesem Sinne ist der von Václav Havel in seiner Schlußthese zu Bohumil Hrabals erzählerischem Werk formulierte Titel des Bandes wohl als Motto zu verstehen.

FUßNOTEN

_1
Vgl. Michal Bauer, Z každého z nás postupem let něco zmizí. Rozhovor s Jiřím Kolářem, Praha (H & H) 2005, S. 50.

_2
Emil Juliš, „Aby paměť nestála”, in: Emil Juliš, Nevyhnutelnosti, Praha (Torst) 1996, S. 277

_3
Josef Hiršal, Vínek vzpomínek, Praha (Rozmluvy) 1991, S. 297.

_4
Bohumil Hrabal, „O pábitelích“, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 12, Praha (Pražská imaginace) 1995, S. 293–295.

_5
Emil Juliš, „Aby paměť nestála”, in: Emil Juliš, Nevyhnutelnosti, Praha (Torst) 1996, S. 280.

_6
Vgl. Bohumil Hrabal, „Hra o pravdu“, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 15, Praha (Pražská imaginace) 1995, S. 90, und Bohumil Hrabal, Svatby v domě, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 11, Praha (Pražská imaginace) 1995, S. 346–351, etc.

_7
Vgl. Bohumil Hrabal, Svatby v domě, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 11, Praha (Pražská imaginace) 1995, S. 349.

_8
Vgl. Bohumil Hrabal, „Z besedy na stanfordské univerzitě“, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 17, Praha (Pražská imaginace) 1996, S. 314.

_9
Bohumil Hrabal, „Atomová mašina značky Perkeo“, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 3, Praha (Pražská imaginace) 1992, S. 277–278.

_10
Der Almanach des Jahres 1954 beinhaltet „Slanina a chléb“ und „Nádrž a kanál“ aus Kolářs Bajky, die 1957 offiziell erschienen.

_11
Einen Gedichtband von Emil Juliš herauszugeben, gelang Kolář nicht, vgl. Emil Juliš, „Ediční poznámka“, in: Emil Juliš, Nevyhnutelnosti, Praha (Torst) 1996, S. 297.

_12
Emil Juliš, „Ediční poznámka“,in: Emil Juliš, Nevyhnutelnosti, Praha (Torst) 1996, S. 297.

_13
Vgl. auch Allesandro Catalano, „»Úloha Koláře se trochu přeceňuje.« Totální realismus a moralizující literatura“, Host, Jg. 22, 2006, Heft 1, S. 36/37.

_14
Bohumil Hrabal, „Staré zlato, brilianty kupuji za nejvyšší ceny“, in: Sebrané spisy Bohumila Hrabala, Bd. 17, Praha (Pražská imaginace) 1996, S. 135.

_15
In diesem Zusammenhang seien nochmals die materialreichen Arbeiten von Michal Bauer erwähnt, die einer stereotypen Auslegung der Literatur nach 1948 entgegenzuwirken versuchen, vor allem der Band Literatura a instituce na přelomu 40. a 50. let 20. století, Jinočany (H&H) 2003.

LITERATUR

Život je všude. Almanach z roku 1956, uspořádali Josef Hiršal a Jiří Kolář, Praha – Litomyšl (Paseka) 2005, 312 S.